Im Dialog mit Richterinnen und Richtern aus ganz Europa

Für Giorgio Malinverni war seine Zeit als Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die schönste seines Berufslebens. Obwohl die Menschenrechte unter Druck stehen, sieht der emeritierte Professor der Universität Genf auch Fortschritte.

25.04.2024 - Katharina Zürcher

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Giorgio Malinverni | © Lukas Würmli / BVGer
«Die Urteile des EGMR zum Migrationsrecht gehören zu den schwierigsten Urteilen überhaupt». (Bild: Lukas Würmli)

Giorgio Malinverni, wie steht es um die Grund- und Menschenrechte in der Schweiz, in Europa und in der Welt?
In der Schweiz ist die Grundrechtssituation relativ gut. Es gibt nur wenige schwerwiegende Verstösse. Das kann man nicht von allen Staaten des Europarates sagen. Als ich noch am EGMR war, wurden die schwerwiegendsten Verletzungen schon damals hauptsächlich in zwei Staaten verzeichnet, nämlich in Russland und der Türkei. Das Gleiche gilt für die Situation in der Welt. Die schwersten Verstösse finden oft in Ländern statt, die sich im Krieg befinden: Es sind Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Schauen Sie sich nur an, was heute in der Ukraine und im Nahen Osten, aber zum Beispiel auch im Sudan oder im Jemen geschieht.

Fast alle Staaten der Welt haben internationale Menschenrechtsabkommen ratifiziert oder berufen sich in ihren Verfassungen auf Grund- und Menschenrechte. Dennoch werden nach wie vor schwere Verstösse begangen. Wo sehen Sie die Hauptursachen dafür?
Zunächst würde ich sagen, dass nicht nur internationale Abkommen, sondern auch innerstaatliches Recht tagtäglich gebrochen wird. Zum Beispiel wird täglich gegen das Strafgesetzbuch oder die Strassenverkehrsordnung verstossen. Der grosse Unterschied zwischen den beiden Arten von Verstössen liegt in den Sanktionen, die darauf folgen. Das Sanktionssystem auf internationaler Ebene ist viel weniger wirksam bzw. schwächer als jenes auf innerstaatlicher Ebene. In vielen Fällen gelingt es den Staaten, sich den Sanktionen zu entziehen. Aber auch auf dieser Ebene werden wichtige Fortschritte erzielt. Man nehme zum Beispiel die jüngste Anklage gegen Wladimir Putin durch den Generalstaatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Russlands Verbrechen in der Ukraine.

Von 2001 bis 2006 waren Sie Mitglied des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Inwieweit halten Sie die sogenannten UN-Vertragsorgane (UN Treaty Bodies) für rechtlich fundiert? Warum steht der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in der Schweiz immer noch im Schatten?
Die UN-Vertragsorgane finden ihre Rechtsgrundlage in den Verträgen selbst. Zurzeit gibt es davon zehn, eines für jeden der wichtigsten Verträge im Bereich der Menschenrechte. Der UNO-Pakt I über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat in der Schweiz leider nicht die gleiche Bedeutung wie sein Zwilling, der UNO-Pakt II. Dieser Unterschied findet sich bereits in unserer Bundesverfassung. Während die bürgerlichen und politischen Rechte in den Artikeln 7–36 der Verfassung abschliessend und sehr präzise aufgeführt sind, sind die Rechte der zweiten Generation in Artikel 41 aufgeführt, der den Titel «Sozialziele» trägt und nicht etwa «Sozialrechte». Ausserdem wird in Absatz 4 dieses Artikels festgehalten, dass aus diesen Sozialzielen keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können. Deshalb ist das Bundesgericht der Ansicht, dass die im Pakt I enthaltenen Rechte nicht justiziabel sind (BGE 141 I 1, S. 8).

Als Mitglied der Venedig-Kommission haben Sie sich für Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt. In sogenannten illiberalen Demokratien scheint es einen Widerspruch zwischen diesen beiden Werten zu geben. Wie kann dieser aufgelöst werden?
Der offizielle Name der sogenannten Venedig-Kommission ist Europäische Kommission für Demokratie durch Recht. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind also die Hauptanliegen, die die ganze Tätigkeit dieser Kommission leiten, und dies seit ihrer Gründung im Jahr 1990, unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer. Praktisch alle ehemaligen Ostblockländer sind den Empfehlungen der Venedig-Kommission gefolgt und haben sich am Vorbild der westlichen Demokratien allmählich demokratisiert. Die sogenannten illiberalen Demokratien sind ein relativ neues Phänomen und betreffen nur eine sehr begrenzte Anzahl von Staaten. Meiner Meinung nach handelt es sich um ein vorübergehendes Phänomen, wie das Beispiel Polens zeigt, das nach einigen Jahren als illiberaler Staat nach den Wahlen im Oktober 2023 aufhörte, ein solcher zu sein. Der Weg zur Demokratie ist ein langsamer Prozess.

«Die sogenannten illiberalen Demokratien sind ein vorübergehendes Phänomen, wie das Beispiel Polens zeigt, das nach einigen Jahren als illiberaler Staat nach den Wahlen im Oktober 2023 aufhörte, ein solcher zu sein. Der Weg zur Demokratie ist ein langsamer Prozess.»

Giorgio Malinverni

Von 2007 bis 2011 waren Sie Richter am EGMR in Strassburg. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Die Zeit, die ich als Richter des EGMR in Strassburg verbracht habe, war wahrscheinlich die schönste Zeit meines Berufslebens und ich behalte sie in bester Erinnerung. Besonders gefallen hat mir der Kontakt mit den anderen 47 Richterinnen und Richtern aus den 47 Staaten des Europarates, der Austausch mit ihnen, die aus Nationen mit unterschiedlichen Rechtstraditionen kamen. Man darf nicht vergessen, dass es sich bei den Fällen, die nach Strassburg kommen, um schwierige Fälle handelt, die in den Mitgliedstaaten bereits auf mehreren Ebenen beurteilt wurden.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag einer Richterin oder eines Richters des EGMR aus?
Ein typischer Tag einer Strassburger Richterin oder eines Strassburger Richters besteht aus der Lektüre von Urteilsentwürfen, die von Kolleginnen und Kollegen vorbereitet wurden, oder der Redaktion eigener Urteile. Aber die interessantesten Momente sind sicherlich die manchmal sehr hitzigen Diskussionen in den Gremien, die die Urteile zu beraten haben, d. h. in der Kammer, die aus sieben Richterinnen und Richtern besteht (einmal pro Woche), und noch mehr in der Grossen Kammer, die aus 17 Richterinnen und Richtern besteht (etwa zwanzigmal pro Jahr).

Welche Fälle haben Sie besonders beeindruckt? Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Die Fälle, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind, sind sicherlich die, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung von der Grossen Kammer entschieden wurden. Dann gibt es auch diejenigen, die von einer einfachen Kammer entschieden wurden, aber wichtige Artikel der Konvention betrafen, wie Artikel 2 (Recht auf Leben) oder Artikel 3 (Verbot der Folter). Und natürlich die Fälle, die die Schweiz betrafen, weil ich in diesen Fällen der nationale Richter war.

Nationale Gerichte und Behörden haben dem EGMR zuweilen vorgeworfen, er urteile zu «aktivistisch», obgleich er sich eigentlich an das Subsidiaritätsprinzip halten müsste, zum Beispiel bei der Überprüfung der Interessenabwägung durch nationale Gerichte. Wie ordnen Sie diese Kritik ein?
Das Subsidiaritätsprinzip ist im Kontrollmechanismus des EGMR von grundlegender Bedeutung. Deshalb wurde es auf den Konferenzen von Interlaken, Izmir und Brighton in den Jahren 2010–2012 eingehend erörtert. Aus diesen Konferenzen ging das Zusatzprotokoll Nr. 15 zur Konvention hervor, mit dem das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich in der Präambel der EMRK verankert wurde, und zwar gerade als Reaktion auf die Kritik einiger Staaten an dem mitunter als übertrieben empfundenen Aktivismus des EGMR. Nach diesem Grundsatz ist es in erster Linie Aufgabe der Vertragsstaaten, die Achtung der Rechte und Freiheiten der Konvention zu gewährleisten, und sie verfügen dabei über einen Ermessensspielraum, der der Kontrolle des EGMR untersteht. Es sind also in erster Linie die Vertragsstaaten, die für die Durchsetzung der Konvention verantwortlich sind, und der EGMR sollte nur als letztes Mittel eingreifen.

In den letzten Jahren hat der EGMR die Schweiz wiederholt «verurteilt», insbesondere im Bereich des Migrationsrechts. Was sollten oder könnten Schweizer Gerichte besser machen? Welche Erwartungen hat der EGMR an die Schweiz?
Meines Erachtens gehören die migrationsrechtlichen Urteile des EGMR zu den schwierigsten Urteilen überhaupt. Es sind wahrscheinlich diejenigen Urteile, bei denen er am häufigsten geteilter Meinung ist, weil er zwischen zwei entgegengesetzten Forderungen vermitteln muss: einerseits die Aufnahme in seinem Hoheitsgebiet von Menschen, die in ihrem eigenen Land verfolgt werden, und andererseits die Wegweisung von Menschen, die Straftaten begehen oder sich unseren Werten nicht anpassen. Zu diesem Zweck hat der EGMR eine Reihe von Kriterien festgelegt, die in jedem Einzelfall anzuwenden sind. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, ob die Person in der Schweiz geboren wurde; wenn nicht, seit wie vielen Jahren sie in der Schweiz lebt; ob sie mit einer Schweizerin oder einem Schweizer verheiratet ist. Dann die Schwere der begangenen Straftat, die eine Ausweisung rechtfertigen könnte; das Risiko, dass die ausgewiesene Person im Zielstaat unmenschlich behandelt oder gefoltert wird.

Ist Ihrer Meinung nach die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz ausbaufähig? Und wenn ja, wäre dies wünschenswert?
Die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit ist in der Schweiz ein immer wiederkehrendes Thema. Bekanntlich besteht diese Gerichtsbarkeit für die Überprüfung von kantonalen Erlassen und Bundesverordnungen, aber nicht für Bundesgesetze (Art. 190 BV). Anders gesagt kann das Bundesgericht die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit der Verfassung nicht überprüfen. Das Bundesgericht kann aber die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit internationalen Abkommen, insbesondere mit der EMRK, überprüfen. Da die darin garantierten Grundrechte weitgehend mit den von der Bundesverfassung garantierten übereinstimmen, ersetzt die Kontrolle der Konventionskonformität in der Praxis die Kontrolle der Verfassungsmässigkeit.

Giorgio Malinverni

Giorgio Malinverni, geboren 1941, arbeitete von 1971 bis 1973 als Rechtsberater beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK). Von 1974 bis 2007 war er Professor für Verfassungsrecht und internationale Menschenrechte an der Universität Genf. Zudem war er Mitglied der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats (Venedig-Kommission; Mitglied 1990–2006, Vizepräsident 1995–1997) und des UNO-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2001–2006). Von 2007 bis 2011 war er Richter am EGMR in Strassburg und beurteilte letztinstanzlich Fälle, in denen es um Verstösse gegen die Menschenrechtskonvention ging. Von 2012 bis 2018 war er Vizepräsident des Verwaltungsgerichts des Europarats.

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