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Von einer Krise in die nächste
Christine Schraner Burgener, Sie leiten seit Anfang letzten Jahres das Staatssekretariat für Migration SEM. Was hat Sie in den ersten Monaten am meisten beschäftigt?
Der Krieg in der Ukraine und die Auswirkungen auf die Schweiz. In den ersten Wochen mussten wir eine grosse Zahl von Vertriebenen aufnehmen und unterbringen. Zeitweise kamen fast 2000 Menschen pro Tag, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Das war eine gewaltige Herausforderung fürs SEM. Ich war, zusammen mit meinen Mitarbeitenden, von frühmorgens bis spätabends damit beschäftigt, Lösungen zu finden, damit wir die Geflüchteten rasch registrieren und ihnen ein Dach über dem Kopf geben konnten. Das ist uns, auch dank der guten Zusammenarbeit mit den Kantonen, Gemeinden und der riesigen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zum Glück gelungen. Die Mitarbeitenden des SEM waren und sind extrem belastet, auch weil die Asylgesuchszahlen stetig steigen. Ich bin froh, habe ich ein derart gut eingespieltes Amt mit hoch motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übernommen.
Wie empfanden Sie den Wechsel von der UNO-Sondergesandten für Myanmar ans SEM?
Ich bin von einer Krise in die nächste gerutscht … Der grösste Unterschied ist sicher, dass ich dort auf mich alleine gestellt war und vieles selber organisieren musste. Im SEM hingegen traf ich auf gut funktionierende Teams, die sehr selbständig arbeiten und mir auch vieles vorbereiten. Ich trage hier die Verantwortung für mehr als tausend Kolleginnen und Kollegen, die sich jeden Tag für die Schweizerische Migrationspolitik einsetzen. Ich sehe es als meine Aufgabe, ihnen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie sich voll auf ihre Aufgaben konzentrieren können. Ich geniesse es sehr, wieder Teil eines Teams zu sein, mit dem ich mich täglich austauschen kann. Am Ende ist der Kern der Aufgabe aber der Gleiche: Lösungen suchen für komplexe Herausforderungen. Und wie in Myanmar geht es auch hier im SEM immer um Menschen und ihre Schicksale.
Wie steht es allgemein um die Migration in der Schweiz, welche Tendenzen beobachten Sie?
Die Schweizerische Migrationspolitik geniesst international einen hervorragenden Ruf. Das höre ich immer wieder, wenn ich mich mit Amtskolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern austausche. Wir behandeln die Asylgesuche rasch, haben eine sehr erfolgreiche Integrationspolitik, vollziehen aber auch Wegweisungen sehr konsequent. Diesen Weg wollen wir weitergehen, weil wir so auch die Unterstützung einer grossen Mehrheit der Bevölkerung haben. Die Herausforderungen werden sicher nicht kleiner. Es gibt global gesehen so viele Vertriebene wie noch nie, der Migrationsdruck ist enorm. Das SEM muss sich auf steigende Asylgesuchszahlen einstellen. Und niemand weiss, wie sich die Lage in der Ukraine weiterentwickeln wird.
Die Rechtslage im Asylbereich ändert sich laufend und unterliegt auch dem Einflussbereich des internationalen Rechts. Wie halten Sie sich zeitgleich zur Bewältigung des Tagesgeschäfts über neue Rechtsentwicklungen auf dem Laufenden?
Die Beobachtung, Analyse und Auswertung der Rechtsentwicklungen im Asylbereich ist Teil der sogenannten «Policy-Arbeit». Das SEM verfügt im Direktionsbereich Asyl für sämtliche wichtigen juristischen Fachthemen sowie Herkunftsländer von Asylsuchenden über Expertinnen und Experten. Diese entwickeln, gestützt auf die Lageentwicklung in den Herkunftsländern und die nationale und internationale Rechtsprechung, die Asyl- und Wegweisungspraxis im Asylbereich respektive die Policy des SEM weiter und halten diese in internen Papieren wie etwa Behandlungshinweisen fest.
Wie und worüber tauschen Sie sich mit ausländischen Partnerbehörden aus?
Dieser Austausch geschieht laufend und ist essentiell, um die Interessen der Schweiz im Migrationsbereich zu wahren. Die Kooperation des SEM mit ausländischen Partnern ist thematisch und geografisch breit gefächert. Es geht zum Beispiel um Verhandlungen für Visa- oder Rückübernahmeabkommen, um Gespräche im Rahmen von Migrationsdialogen oder um Strategien, wie abgewiesene Asylsuchende in ihren Herkunftsstaaten wieder integriert werden können. Wir verfolgen bei jedem Austausch einen partnerschaftlichen Ansatz. Nebst den Interessen der Schweiz stehen auch die Bedürfnisse und Herausforderungen der Herkunfts- und Transitstaaten im Fokus. Wir unterstützten Projekte in Bereichen wie Integrationspolitik, Asylverfahren oder Migrationsmanagement finanziell und auch über den direkten Wissensaustausch. Dabei spielen unsere Immigration Liaison Officers, Mitabeitende des SEM in den wichtigsten Herkunfts- und Transitstaaten, eine wichtige Rolle. Sie kennen die Situation vor Ort und wissen, wie sich die Schweiz am besten einbringen kann. Daneben tauschen wir uns innerhalb der internationalen Organisationen über Fragen im Asyl- und Flüchtlingsbereich mit anderen Staaten aus.
«Gerade in Krisensituationen wie dem Ukrainekrieg ist die enge Zusammenarbeit mit der EU und einzelnen europäischen Staaten von grösster Bedeutung.»
Christine Schraner-Burgener
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der EU?
Die Schweiz ist im Rahmen der Schengen- und Dublin-Assoziierung in die Asyl- und Migrationspolitik der EU eingebunden. Sie nimmt via Schengen an der gemeinsamen Grenzschutz- und Visumpolitik teil und beteiligt sich an entsprechenden EU-Fonds. Im Asylbereich ist via Dublin geregelt, welcher europäische Staat für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig ist. Die Assoziierung an diese Instrumente hat grossen Einfluss auf die tägliche Arbeit des SEM: Wir analysieren die Auswirkungen der europäischen Asyl- und Migrationspolitik auf die schweizerische Praxis laufend. Auch stellen wir die Vertretung der Schweiz in verschiedenen Arbeitsgruppen der europäischen Institutionen zur Weiterentwicklung des Rechtsrahmens von Schengen und Dublin sicher. Darüber hinaus hat die bilaterale Zusammenarbeit, insbesondere mit unseren Nachbarstaaten und denjenigen an der Schengen-Aussengrenze, die unter besonderem Migrationsdruck stehen, in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Welche Rolle spielt hier der Krieg in der Ukraine?
Gerade in Krisensituationen wie dem Ukrainekrieg ist die enge Zusammenarbeit mit der EU und einzelnen europäischen Staaten von grösster Bedeutung. Sie stellt sicher, dass die Schweiz über Entwicklungen jederzeit im Bilde ist und eingebunden wird in gesamteuropäische Strategien und Instrumente. Natürlich telefoniere ich auch regelmässig mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen, insbesondere aus unseren Nachbarländern, oder reise zu anderen wichtigen Migrationspartnern. Die Begleitung von Bundesrätin Keller-Sutter an die Sitzungen des Justiz- und Innenminister-Rats der EU ermöglicht mir auch, mich mit vielen Vertreterinnen und Vertretern von EU-Staaten direkt auszutauschen.
Ihre Mitarbeitenden stehen in unmittelbarem Kontakt mit den betroffenen Personen. Wie gehen sie mit dieser Nähe und den Schicksalen um?
Es ist tatsächlich eine tägliche Herausforderung für die Mitarbeitenden im Asylbereich, trotz all der schlimmen und manchmal auch tragischen Dinge, die sie hören, eine professionelle Distanz zu wahren. Hier ist vor allem der intensive und offene Austausch im Team mit den Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig. Wer dies möchte, kann auch ein Coaching oder Supervision in Anspruch nehmen. Wir sind gerade daran, ein niederschwelliges Supervisions-Angebot aufzubauen. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen aus diesem Bereich spreche, staune ich immer wieder, wie professionell sie mit all diesen Geschichten umgehen und dennoch eine grosse Menschlichkeit bewahren. In Asien, wo ich in Konfliktgebieten tätig war, sah ich viel Leid, aber ich habe auch gelernt, dass man für diese Menschen mehr erreicht, wenn man selber stark bleibt, ohne dabei die Empathie zu verlieren.
Können Sie uns kurz schildern, was passiert, wenn eine asylsuchende Person in der Schweiz eintrifft?
Die asylsuchende Person stellt in einem Bundesasylzentrum ein Asylgesuch. Nachdem wir die Person registriert und untergebracht haben, findet in einem ersten Schritt ein Dublin-Gespräch statt, zudem gleichen wir die Fingerabdrücke mit der zentralen Datenbank Eurodac ab. So können wir prüfen, ob die Schweiz oder ein anderer Dublin-Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das Dublin-Gespräch führt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in Anwesenheit eines Rechtsvertreters oder einer Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers durch. Falls ein anderer Dublin-Staat zuständig ist, ersuchen wir diesen, das Asylverfahren für diese Person durchzuführen. Je nach Resultat verfügt das SEM im Anschluss einen Nichteintretensentscheid und ordnet den Vollzug der Wegweisung in den betreffenden Dublin-Staat an oder leitet das ordentliche nationale Asylverfahren ein. Der Nichteintretensentscheid kann beim BVGer angefochten werden.
Wie geht es danach weiter?
Sofern die Schweiz für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, findet in einem zweiten Schritt eine Anhörung zu den Asylgründen statt. Auch bei diesem Gespräch sind eine Rechtsvertretung, eine dolmetschende Person und eine Protokollführerin oder ein Protokollführer anwesend. Diese Anhörung ist ein Kernelement, um beurteilen zu können, ob die Voraussetzungen für ein Eintreten auf das Asylgesuch gegeben sind, ob die Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft und die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl erfüllt sind und ob allfällige Wegweisungshindernisse vorliegen. Wenn das Asylgesuch nach der Anhörung abschliessend beurteilt werden kann, wird innert 8 Arbeitstagen im beschleunigten Verfahren ein erstinstanzlicher Asylentscheid direkt im Bundesasylzentrum gefällt. Sind hingegen zusätzliche Abklärungen notwendig, so wird ein erweitertes Asylverfahren durchgeführt. Negative Asylentscheide können beim BVGer angefochten werden.
Wie viele Asylentscheide fällt das SEM pro Jahr und wie viele davon werden ans BVGer weitergezogen?
Das SEM erledigte im Jahr 2021 insgesamt 15’464 Asylgesuche. Hinter jedem Asylgesuch steht eine asylsuchende Person. In 5’369 Fällen hat das SEM Asyl gewährt, 956 Gesuche haben wir abgeschrieben. Die übrigen 9’139 SEM-Entscheide waren grundsätzlich beschwerdefähig. Die Beschwerdequote lag 2021 bei 35,2 Prozent, in rund 3’200 Fällen erfolgte also eine Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen. Interessant ist aber auch eine andere Zahl: Rund 97 Prozent aller beschwerdefähigen Entscheide des SEM wurden rechtskräftig. Dies zeigt aus meiner Sicht, dass im SEM sehr korrekt gearbeitet wird.
Wie werden die Urteile des BVGer bei Ihnen aufgenommen?
Die Urteile des BVGer, insbesondere die Leit- und Koordinationsurteile, sind wichtige Quellen für die Weiterentwicklung und Festlegung der Asyl- und Wegweisungspraxis des SEM sowie auch für die Entscheidfindung und -begründung im Einzelfall. Ausführliche Urteile werden von den Mitarbeitenden des SEM sehr geschätzt. Ich höre von diesen auch immer wieder, dass diese klar formuliert und von hoher argumentativer Qualität sind. Sie ziehen gerne Passagen daraus heran, um erstinstanzliche Asylentscheide zu untermauern. Das ist gelebte Gewaltenteilung.
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