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Konkrete Wirkung für viele Menschen

Im nächsten November sind es 50 Jahre, seit die Europäische Menschenrechtskonvention in der Schweiz in Kraft getreten ist. Alain Chablais, Prozessbevollmächtigter der Schweizer Regierung und ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht, ist überzeugt: «Sobald sie ratifiziert war, hat sie vieles in der Schweiz voran gebracht.»

20.06.2024 - Stéphane Oppliger

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Alain Chablais (rechts) und Franz Perrez bei der Anhörung der Klima-Seniorinnen vor der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg am 29. März 2023.
Alain Chablais (rechts) und Franz Perrez bei der Anhörung der Klima-Seniorinnen vor der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg am 29. März 2023. (Bild: Keystone/Jean-Christophe Bott).

Das Interview wurde am 18. Dezember 2023 geführt.

Herr Chablais, Sie sind Prozessbevollmächtigter der Regierung. Was bedeutet das?
Der Prozessbevollmächtigte vertritt die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und vor den UNO-Ausschüssen, deren Zuständigkeit für Individualbeschwerden die Schweiz anerkannt hat: der Antifolterausschuss, der Kinderrechtsausschuss, der Ausschuss gegen Rassendiskriminierung und der Frauenrechtsausschuss.

Ist der EGMR ein notwendiges Instrument? Wenn ja, inwiefern?
Im November 2024 feiern wir in der Schweiz die 50-jährige Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese ist für die Schweiz und für Europa selbstverständlich sehr wichtig. Seit sie von der Schweiz ratifiziert wurde, hat sie hierzulande vieles voran gebracht. So wurde für eben diese Ratifizierung Anfang der 1970er Jahre das Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt. Und wir haben dazu die konfessionellen Ausnahmeartikel aus der Bundesverfassung gestrichen, die Prozessordnungen reformiert und die administrative Versorgung abgeschafft. Die Ratifizierung der Konvention hat also spürbare Menschenrechtsverbesserungen gebracht.

Haben Sie ein Beispiel?
Ein Fall mit besonders grosser Wirkung war der Fall Howald Moor. Dabei ging es um einen Mann, der während Jahren Asbestimmissionen ausgesetzt war. Der EGMR hat die Schweiz verurteilt, weil die vom Obligationenrecht vorgesehene Verjährungsfrist nur 10 Jahre betrug, während asbestbedingte Krebserkrankungen bekannterweise erst viel später auftreten. Der Gerichtshof befand daher, dass diese Frist den Anspruchsberechtigten nicht wirklich ermöglicht, ihren Antrag von den Schweizer Gerichten prüfen zu lassen. Aus diesem Grund haben wir nicht nur das einschlägige Verjährungsrecht angepasst, sondern auch einen Entschädigungsfonds für Asbestopfer in der Schweiz eingerichtet. Daraus können bis heute noch zahlreiche Asbestopfer entschädigt werden. Und das dank dem EGMR.

Der EGMR hat also viel Positives bewirkt?
Viele Entscheide, die der EGMR gefällt hat, haben für viele Menschen in der Schweiz ziemlich konkrete Dinge verändert. Und wird es auch weiter tun. Kürzlich hat der Gerichtshof einen wichtigen Entscheid zum Bettelverbot in Genf gefällt. Nun muss eine ganze Reihe kantonaler Gesetze angepasst werden, die ein absolutes Bettelverbot vorsahen. Darum bin ich der Meinung, dass der EGMR eine positive Wirkung hat, denn er trägt zu einem grösseren Schutz der Menschenrechte bei. Soll eine Menschrechtsverletzung behoben werden, wird im Allgemeinen der Rechtsschutz verstärkt.

Sind die internationalen Menschenrechtsnormen das richtige Instrument für den Kampf gegen die Klimakrise?
Das Völkerrecht ganz bestimmt, nicht aber die internationalen Menschenrechtsnormen. Sie sprechen die Sache «Verein Klima-Seniorinnen gegen die Schweiz» an. Die Frage ist, ob bei einer weltweiten Problemlage wie dem Klimawandel Einzelpersonen als Opfer vor dem Gerichtshof auftreten können. Hier erwarten wir einen Grundsatzentscheid. Die Schweizer Regierung und auch andere Staaten sind der Meinung, dass es nicht die Rolle des EGMR ist, für die Vertragsstaaten des Pariser Abkommens zu einem Aufsichtsorgan für das Einhalten ihrer Vertragspflichten zu mutieren. Sonst würde das System verdreht: Damit würde für einen Völkerrechtsvertrag, dem die Vertragsparteien keinen zwingenden, punitiven Charakter beimassen, eine verbindliche Gerichtsbarkeit eingeführt. Zudem lässt sich schwer vorstellen, wie der Gerichtshof über das nötige Fachwissen verfügen sollte, um diese Rolle fundiert und dauerhaft wahrzunehmen.

«Rund 280 Beschwerden werden jährlich gegen die Schweiz geführt. In weniger als zehn Fällen wird ein Verstoss gegen die Konvention festgestellt.»

Alain Chablais

Wie hat sich seit Ihrer Wahl an das BVGer 2009 das schweizerische Recht im Blick auf das Völkerrecht entwickelt?
Es gab keinen fundamentalen Wandel. Die Spannungen zwischen Völkerrecht und nationalem Recht sind heute möglicherweise grösser als vor 15 Jahren. Aber grundsätzlich ist es immer noch Sache des Richters, sich um eine harmonische Auslegung des nationalen Rechts zu bemühen, sodass sie nicht im Widerspruch zum Völkerrecht steht. Situationen mit unlösbaren Konflikten treten eigentlich äusserst selten auf. Es ist Sache des Gesetzgebers, keine weiteren zu schaffen, auch wenn dies bisweilen verlockend sein mag.

Welche Erwartungen hat der EGMR an die Schweiz?
Ich denke nicht, dass der EGMR besondere Erwartungen an die Schweiz hat. Generell funktionieren die Schweizer Gerichte gut. Ihre Arbeit ist erstklassig, und sie fällen ihre Urteile schnell. Im Sinne der Subsidiarität erwartet der Gerichtshof von den nationalen Gerichten, dass sie detailliert prüfen, ob die Garantien der Menschenrechtskonvention respektiert werden. Dabei gilt es, die Rechtsprechung des Gerichtshofs und seine Kriterien zu berücksichtigen. Diese müssen sich die Gerichte aneignen und in ihre Erwägungen einfliessen lassen, damit ihre Urteile stichhaltig sind. Wird dies beachtet, hat der Gerichtshof im Prinzip keinen Grund, ein angefochtenes Urteil in Frage zu stellen, denn es ist nicht seine Aufgabe, die nationalen Gerichte zu ersetzen. Denken wir daran, dass die Schweiz als Musterschülerin gilt. Jedes Jahr werden rund 280 Beschwerden gegen die Schweiz geführt. In weniger als zehn Fällen wird ein Verstoss gegen die Konvention festgestellt. Das ist ein sehr gutes Resultat.

Sie vertreten die Schweiz auch vor diversen UNO-Menschenrechtsausschüssen. Ist die Arbeit des EGMR und der Ausschüsse anders?
Ja, zweifellos. Die Art und Präzision der Arbeit des Gerichtshofs lässt sich kaum mit den UNO-Ausschüssen vergleichen. Vor allem handelt es sich um ziemlich unterschiedliche Instanzen. Auf der einen Seite der EGMR, ein internationales Gericht, das für die Staaten verbindliche Urteile fällt und daher auch ziemlich strenge Kontrollmechanismen einsetzt. Auf der anderen Seite die UNO-Ausschüsse, die zwar auf völkerrechtlichen Verträgen fussen, die aber keiner gerichtlichen Kontrolle unterstellt sind. Dieses System beruht vielmehr auf unabhängigen Expertenausschüssen, die durch diese Verträge konstituiert werden. Es handelt sich um Organe, die man im besten Falle quasi-gerichtlich nennen könnte und deshalb nicht dieselbe Legitimität und Autorität aufweisen. Im Übrigen sind die Mitglieder dieser Ausschüsse nicht zwingend Juristen und können durchaus auch andere Profile aufweisen. Ihr juristischer und verfahrensmässiger Ansatz ist weniger streng – bisweilen ist er gar durch Aktivismus gekennzeichnet – als derjenige der Richter eines internationalen Gerichts.

Gibt es andere Unterschiede?
Auch bei den Finanzmitteln gibt es grosse Unterschiede, was mit ein Grund für den qualitativen Unterschied sein mag. Am Gerichtshof sind über 600 hochqualifizierte Fachpersonen beschäftigt. Ganz anders in den UNO-Ausschüssen, deren Teams viel kleiner sind. Die personellen Ressourcen und das Wissen zu den jeweiligen Ländern sind nicht vergleichbar. Diese Diskrepanz ergibt sich teils daraus, dass viele Staaten entgegen ihren Lippenbekenntnissen kein wirkliches Interesse an einem starken universellen System zum Schutz der Menschenrechte haben. Dies schwächt den politischen Willen, diesen Mechanismen die nötigen Geldmittel zu verschaffen.

Wie sehen Sie die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts? Sollten Asylentscheide Ihrer Meinung nach vor einer Beschwerde beim EGMR an das Bundesgericht weitergezogen werden?
Zur zweiten Frage: Dies ist wirklich ein Entscheid des Gesetzgebers. Es handelt sich nicht um eine Erfordernis der Konvention und stellt an und für sich auch kein Problem dar. Auch was die Qualität der Rechtsprechung des BVGer angeht, steht mir kein Urteil zu. Auf institutioneller Ebene stellt die Einführung des BVGer einen deutlichen Fortschritt dar. Das BVGer ist ein modernes Gericht geworden, das gut funktioniert und es geschafft hat, seine Effizienz ständig zu steigern.

Zum Schluss: Müssen Sie im Rahmen Ihrer Funktionen oft nach Strassburg fahren oder erfolgen die meisten Verfahren im Schriftverkehr?
Seit einigen Jahren haben sich die Dinge verändert. Die Beratungen sind viel seltener geworden. Für ein Land wie die Schweiz werden höchstens ein bis zwei Fälle pro Jahr in öffentlichen Beratungen behandelt. Das heisst, die Verfahren erfolgen im Wesentlichen im Schriftverkehr. Doch finden zwischen den Prozessbevollmächtigten der Regierung und dem Gerichtshof regelmässige Kontakte statt, im Allgemeinen zwei Mal pro Jahr im Rahmen der Koordinationssitzung in Strassburg.

 

Alain Chablais

Alain Chablais war von 2009 bis 2012 Richter an der Abteilung I des BVGer. Seit 2018 ist er Prozessbevollmächtigter der Schweizer Regierung und als solcher dem Bundesamt für Justiz zugeordnet. Er wird ab dem 1. September 2024 als Richter für Lichtenstein am EGMR Einsitz nehmen.

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