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Die Rolle der Ethik in der Rechtsprechung

Ulrich Maidowski, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (D), ist überzeugt, dass die ethische Debatte in der Rechtsprechung lebenslang geführt werden muss.

22.04.2020 - Katharina Zürcher

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Ulrich Maidowski im Interview
Ulrich Maidowski im Interview mit dem BVGer. Foto: BVGer

Ulrich Maidowski, warum sollten sich Richterinnen und Richter mit ethischen Fragen befassen?

Fragen der Ethik spielen in der Rechtsprechung fast immer eine Rolle. Zum Beispiel dann, wenn wir als Richter vor der Frage stehen, wie wir die Entscheidungsspielräume nutzen wollen, die etwa das Prozessrecht uns bietet. Jedes Gespräch über Ethik gibt uns die Gelegenheit zur aktiven Auseinandersetzung mit unserem Selbstverständnis. Das braucht jeder von uns.

Gibt es in ethischen Fragen ein Richtig oder Falsch? Handelt es sich nicht vielmehr um die Weltanschauung und den Ermessensspielraum jeder Richterin und jedes Richters?

Die Wahrheit dürfte ungefähr in der Mitte liegen. Auf der einen Seite ist Ethik nichts Beliebiges, gerade wenn es um ethische Leitlinien für einen Beruf geht, der wie der Richterberuf durch Verfassungsrecht und einfaches Recht sehr stark geprägt ist. Den Satz «Besser schnell als richtig» kann man zwar als ethisches Statement verkaufen, aber eine Stütze findet er in den genannten Rechtstexten nicht. Auf der anderen Seite ist Ethik etwas sehr Persönliches – der Richter über die Ethik ist das Gewissen. Und die jeweilige persönliche Note bei der Ausdifferenzierung einer Berufsauffassung ist nicht nur normal, sondern macht die Justiz menschlich und im Übrigen auch vielseitig und resilient.

Sie waren lange Asylrichter. Ist das Befolgen ethischer Leitlinien in der aktuellen Situation mit sehr vielen Asylsuchenden nicht ein unnötiger Luxus?

Ganz sicher nicht. Ethische Leitlinien bewähren sich nicht bei schönem, sondern vor allem bei schlechtem Wetter. Richterinnen und Richter denken und sprechen nicht so sehr für Gruppen von Fällen, sondern entscheiden Einzelfälle. Und wenn das Dezernat noch so voll ist: Jede einzelne Entscheidung muss für genau die Verfahrensbeteiligten des jeweiligen Falles passen. Da nun aber gerade im Asylrecht das Denken in Fallgruppen immer stärker um sich greift, können ethische Leitlinien hier positiv wirken.

Es gibt auch jenseits des Asylrechts ethisch schwierige Situationen für Richter/innen, etwa durch den Druck von Öffentlichkeit, Politik oder Verfahrensparteien. Wie können sie diesem begegnen?

Gerade in schwer zu entscheidenden Fällen formulieren Gesellschaft und Politik häufig sehr konkrete, allerdings meist höchst unterschiedliche Erwartungen an das Gericht; es wird unmissverständlich deutlich, welche Entscheidung als «richtig» und welche als «falsch» empfunden werden wird. Das geschieht etwa in Strafprozessen nach Verbrechen, die die Öffentlichkeit aufgewühlt haben, aber auch vor dem Hintergrund aktueller grosser Debatten – denken Sie etwa an das Flüchtlingsrecht. Diesen Druck muss man als Gericht aushalten. Es ist ja durchaus ein gutes Zeichen, dass die Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, wie stark das Recht unser Leben bestimmt und wie bedeutsam die Rolle der Justiz sein kann.

Wann sollte sich die Justiz gegen Druck von aussen wehren?

Dort, wo hinter dem Druck der Öffentlichkeit oder der Politik ein Fehlverständnis von der Rolle der Justiz steckt, müssen wir reagieren. Früher sagte man: Richter sprechen nur durch ihre Urteile. Heute ist das überholt. Wir müssen unsere Rolle im Staat erklären, und manchmal eben auch unsere Entscheidungen. In einem System, in dem die Richter durch Repräsentanten des Volkes gewählt werden, gilt dies erst recht: Auch die Richterschaft dient dem Volk, aber sie hat eben kein imperatives Mandat von den politischen Kräften, die ihre Wahl unterstützt haben. Dass auch die Verfahrensbeteiligten feste Vorstellungen vom Ausgang des Verfahrens haben, ist hingegen vollkommen normal. Werden diese Vorstellungen zu massiv formuliert oder sind sie inhaltlich zu extrem, besteht ja immer die Möglichkeit des direkten Gesprächs mit den Beteiligten über ihr Verhalten.

«Ethik ist ein Thema, über das wir lebenslang reden müssen – egal, unter welcher Überschrift wir das tun.»

Ulrich Maidowski

Was empfehlen Sie Kolleginnen und Kollegen, die vor ethisch herausfordernden Situationen stehen?

Mir sind drei Dinge wichtig: Erstens braucht man für eine professionelle und zufriedenstellende Entscheidung in einer herausfordernden Situation Zeit; also sollte man sich nicht so sehr zur Eile treiben lassen, dass die Qualität leidet. Zweitens gibt es nach meiner Erfahrung nur sehr wenige Menschen, die in einer derartigen Situation alleine am besten entscheiden können. Für mich unverzichtbar ist es, das Gespräch mit anderen zu suchen, mit Kolleginnen und Kollegen, denen ich Respekt entgegenbringe und denen ich vertraue. Es ist nicht wichtig – manchmal nicht einmal gut –, wenn die Gesprächspartner tendenziell dieselbe Meinung vertreten wie man selbst. Und drittens kann und sollte man sich auf ethisch herausfordernde Situationen gedanklich vorbereiten.

Sie waren an verschiedenen Gerichten in unterschiedlichen Materien tätig: Baurecht, Denkmalschutz, Ausländerrecht, Asylrecht und heute am Bundesverfassungsgericht. Haben Sie Unterschiede wahrgenommen in Bezug auf das Thema Richterethik?

Die Unterschiede sind kleiner als man erwarten würde. In manchen Rechtsgebieten ist es aber schon schwerer als in anderen, die erforderliche innere Distanz zu allen Verfahrensbeteiligten zu wahren. Hinzu kommt, dass Entscheidungen, die zwar einen Einzelfall betreffen, aber absehbar eine grosse Breitenwirkung haben werden, eine zusätzliche Dimension der Überlegung erfordern. Denn hier schreibt man das Urteil nicht nur für die Verfahrensbeteiligten, die man kennengelernt hat, sondern für einen viel grösseren Adressatenkreis.

Hat sich Ihre Sicht auf die richterliche Ethik im Lauf der Zeit verändert?

Ich bin seit 28 Jahren Richter, ich habe sehr oft meinen Arbeitsplatz gewechselt und immer den Kontakt zur Kollegenschaft auch jenseits der Grenzen meines Landes gesucht. Dabei bin ich schnell darauf gestossen, dass meine ursprüngliche Vorstellung von einem guten Richter nicht die einzig richtige ist. Bis heute glaube ich, dass es gemeinsame Grundhaltungen gibt, die Richter miteinander teilen oder teilen sollten, aber ich habe gelernt, dass sehr unterschiedliche Wege zu demselben Ziel führen können. Wenn Sie so wollen, haben die vielen Kontakte mit Kollegen, Bürgerinnen und Betroffenen zu etwas mehr Offenheit und Bescheidenheit geführt. Eines allerdings hat sich nicht verändert: Ethik ist ein Thema, über das wir lebenslang reden müssen – egal, unter welcher Überschrift wir das tun.

Sie sagen, ethisch geprägte Rechtsprechung brauche Mut. Wie können Richter/innen auch unter erschwerten Umständen qualitativ gut, sorgfältig und unabhängig entscheiden?

Jede Entscheidung, von der wir während des Fällens und Begründens innerlich schon wissen, dass sie uns nicht zufriedenstellt, fällt uns irgendwann auf die Füsse. Entweder ist da plötzlich ein Präjudiz in der Welt, von dem wir nicht mehr wegkommen, oder es ist auch «nur» das Gefühl, den selbst gesteckten Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein, in gewisser Weise versagt zu haben. Das demotiviert, und es wirft ein schlechtes Bild auf die Richterschaft insgesamt. Das Empfinden, versagt zu haben, wiegt umso schwerer, als es eigentlich eine ganz einfache Überlegung ist, die uns davor bewahren kann: Wir sind nur dem Gesetz verpflichtet, das aber zu hundert Prozent. Politische oder gesellschaftliche Haltungen, die der Gesetzgeber nicht in geltendes Recht gegossen hat, können uns nicht binden, auch wenn sie einen positiven Effekt haben.

Welchen positiven Effekt meinen Sie?

Den positiven Effekt, der darin besteht, unser Nachdenken über das Gesetz zu schärfen, kritischen Einwänden nachzugehen, tiefer zu bohren. Mut braucht es eigentlich erst dann, wenn das Gesetz uns mehrere Möglichkeiten anbietet, gerade im Verfahrensrecht. Wer hier stets den bequemen Weg geht, der wird sich bei einem kritischen Blick in den Spiegel selbst nicht als mutig empfinden. Gerade das ist es doch aber, was uns selbst motiviert und was auch die Gesellschaft von uns will: mutig zu sein, auch wenn es unbequem wird. 

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