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Das Wesentliche herausfiltern
Lukas Abegg, wie sind Sie als Jurist zum Digitalisierungsexperten geworden?
Während meines Rechtsstudiums in Basel habe ich mich sehr für Immaterialgüterrechte interessiert. Diese befassen sich zwangsläufig mit neuen Technologien, auch mit der Digitalisierung. Diese fachliche Ausrichtung habe ich in meinem LL.M. in den USA vertiefen können. Meine Doktorarbeit zum Thema «Patentverletzung durch additive Fertigung (3D-Druck) brachte zudem ein vertieftes Auseinandersetzen mit dem Wesen digitaler Güter mit sich. Ganz allgemein helfe ich gerne mit, die Digitalisierung voranzutreiben. Ich war einige Jahre im Vorstand der «Swiss Legal Tech Association» aktiv und unterrichte heute an der Hochschule für Wirtschaft Zürich im CAS Legal Tech Studierende zur Digitalisierung von Gerichten.
Innerhalb der Digitalisierung spricht zurzeit alles von Künstlicher Intelligenz (KI). Was halten Sie davon?
Die künstliche Intelligenz existiert schon lange, doch im Moment wird ein Riesenhype darum gemacht. In Juristenkreisen fragt man sich, ob uns die KI bald überflüssig macht. Ich sehe das eher gelassen. Richard Susskind schrieb schon 2008 ein Buch mit dem Titel «The End of Lawyers?», und heute, fünfzehn Jahre später, gibt es so viele Anwälte wie noch nie. Dennoch darf man die Augen nicht verschliessen vor der Evolution, die im Gang ist: Die Rechtsindustrie wird gerade voll von der Digitalisierungswelle erfasst. Wir erledigen immer mehr mit mobilen Geräten, haben unsere Daten in Clouds gespeichert. Neuere Programme laufen primär übers Internet und sind ohne Cloud gar nicht mehr nutzbar. Die Technologie und die Produkte werden immer besser; die Anwendungen erreichen eine breite Masse und kommen in Kanzleien und Gerichten zum Einsatz.
Wie steht es um die Sicherheit von Cloud-Diensten, wenn es – wie in der Justiz – um heikle Daten geht?
Tatsächlich muss man in der Rechtsbranche noch vorsichtiger sein als in anderen Gebieten. Das ist aber auch eine Chance, denn niemand möchte das Risiko eingehen, dass beispielsweise amerikanische Justizbehörden auf heikle Daten zugreifen. So haben Schweizer Anbieter mit Cloudservices im Inland einen wichtigen Verkaufsvorteil, gerade wenn es um Kanzleien geht. Andererseits nutzen praktisch alle Juristen Microsoft-Programme wie Outlook, oft ohne im Detail zu wissen, was mit den Daten wirklich passiert.
Künstliche Intelligenz wird auf gewissen Gebieten bereits eingesetzt. Wo steht die Justiz?
In der Schweizer Justiz gibt es meines Wissens aktuell noch wenig KI-basierte Anwendungen. In anderen Ländern mit mehr Massenverfahren gibt es aber bereits Ansätze, wie KI eingesetzt werden kann. Ich persönlich sehe eine gute Möglichkeit in der Recherche, etwa mit der Webseite «justement.ch», die ein KI-basiertes Tool enthält. Es verknüpft die Urteile der kantonalen Obergerichte und diejenigen der eidgenössischen Gerichte mit einer Open-AI-Schnittstelle. Wer einen Account erstellt, was zurzeit noch gratis ist, gelangt mit einer Stichwortsuche zu erstaunlichen Ergebnissen. Quasi der Gegenentwurf zu «justement.ch», das ein gewinnorientiertes Unternehmen ist, stellt die Plattform «entscheidsuche.ch» dar. Sie ist von einem gemeinnützigen Verein erstellt worden mit dem Ziel, die Urteile an einem Ort auffindbar zu machen. Sie funktioniert aber ohne Verknüpfung mit einem Verlag und ohne künstliche Intelligenz.
Voraussetzung für die Digitalisierung ist eine gewisse Standardisierung. Warum tut sich die Justiz schwer damit?
Weil Juristinnen und Juristen genau das Gegenteil von Standardisieren machen: sie schauen Einzelfälle an. Deshalb löst der Begriff vielfach einen negativen Reflex aus. Natürlich ist jeder Fall ein Einzelfall und muss entsprechend geprüft werden und das darf sich mit der Digitalisierung auch nicht ändern. Standardisiert werden muss nicht der Inhalt, sondern die Form. Wenn die Inhalte eine standardisierte Form haben, wenn zum Beispiel alle Dateien gleich strukturierte Metadaten haben, können sie über verschiedene Datenbanken hinweg gesucht und gefunden werden. Von einheitlich organisierten Formen profitiert auch das Wissensmanagement.
Inwiefern gehen die Digitalisierungsbestrebungen am BVGer auf Justitia 4.0 zurück?
Sie gehen nicht direkt darauf zurück, sondern verlaufen eher parallel. Die ursprünglich treibenden Kräfte in der Digitalisierung der Justiz kamen aus dem Strafrecht, da hier die Kantone mit ihren Polizeien intensiv zusammenarbeiten müssen. Später kam über die KKJPD und das Mitwirken des Bundesgerichts auch das Zivilrecht an Bord. Daraus entstand in der Folge Justitia 4.0 als eigenständige Organisation. Das Verwaltungsrecht wurde ursprünglich explizit ausgeklammert und erst später wieder miteinbezogen.
Warum?
Da die Vorinstanzen der Verwaltungsgerichte Verwaltungseinheiten sind, stellt sich die Frage der Gewaltenteilung. Die Judikative kann nicht der Exekutive vorschreiben, welche Software oder welche Dateiformate sie benutzen muss. Dennoch ist eine solche Plattform, wie sie von Justitia 4.0 angestrebt wird, nur sinnvoll, wenn möglichst alle Beteiligten mitmachen. Noch sind ein paar Abgrenzungsfragen offen, aber wir können bei dieser grossen Digitalisierung der Justiz nicht abseitsstehen. So achten wir darauf, zu Justitia 4.0 kompatibel zu bleiben und stehen in regem Austausch, auch wenn unsere digitale Entwicklung grundsätzlich unabhängig verläuft.
Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft: Welche Rolle wird Künstliche Intelligenz dereinst in der Rechtsprechung spielen?
Ich rechne damit, dass es in zwei bis drei Jahren Tools gibt, die den Sachverhalt automatisch erstellen und Urteile zusammenfassen, indem sie das Wesentliche herausfiltern. KI wird uns im Sinn eines Vorschlags einen Teil der Arbeit abnehmen, sodass wir schneller und besser vorankommen. Was es heute schon gibt, sind Produkte zum Anonymisieren von Urteilen. Diverse Gerichte arbeiten bereits damit; auch am BVGer werden sie im Rahmen von eTAF geprüft. Aber aus meiner Sicht muss keine Juristin befürchten, dass ihr Job wegen KI überflüssig wird. Hingegen ist es möglich, dass Juristen, die nicht mit Technik umgehen können oder wollen, durch solche ersetzt werden, die das tun.
Dann gibt es den Job der Gerichtsschreiberin in zehn oder zwanzig Jahren noch?
Definitiv. Aber die Art der Arbeit wird sich ändern, weil wir – wie Anwälte heute schon – vermehrt durch Software unterstützt werden. Diesbezüglich ist es fast eine Art Wettrüsten. Bei Beschwerden von mehreren hundert Seiten Umfang, wie wir sie in manchen Abteilungen haben, und zehn bis zwanzig Bundesordnern Beilagen, kann Software eine grosse Hilfe sein. Sie könnte zum Beispiel automatisch ein Rügen-Register erstellen, sodass sich der Gerichtsschreiber auf die kreative und spannende Arbeit konzentrieren kann: nämlich wie den Rügen begegnet werden soll. KI kann uns helfen, Übersicht zu schaffen, was es uns erlaubt, kürzere Urteile zu schreiben. Indem wir Überflüssiges weglassen, wirkt KI auch der Schreibwut entgegen. So ist zumindest meine Hoffnung.
Apropos Schreibwut: Sind Legal Chatbots, die in Kanzleien zum Einsatz kommen, vergleichbar mit Textrobotern wie ChatGPT?
Diesbezüglich muss zwischen zwei unterschiedlichen Methoden differenziert werden. Klassische Chatbots gibt es schon länger. Sie sind deterministisch programmiert, funktionieren also nach «Wenn-dann»-Art im Sinne eines vorbestimmten Flussdiagramms. ChatGPT dagegen ist probabilistisch und greift auf mehr oder weniger alles zurück, was im Internet steht. Es errechnet, ganz vereinfacht gesagt, die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Wort auf ein anderes bestimmtes Wort folgt. So bildet es ganze Sätze, die wie von Menschen formuliert aussehen. Ein grosser Nachteil ist, dass es technisch praktisch nicht möglich ist zu dokumentieren, wie diese Wahrscheinlichkeiten entstanden sind.
Neben den Sprachrobotern gibt es auch KI, die Bilder generiert. Wem gehört das Urheberrecht an solchen Erzeugnissen?
In den USA gibt es erste Gerichtsfälle zu diesem Thema. Bei der Bild-KI «Dall-E» beispielsweise stellen sich zwei Fragen: Wer hat das Bild generiert und wer ist Urheber? Eine Maschine oder ein Mensch? Die Programmiererin oder der Inhaber der Maschine? Da die probabilistische Methode viel Input braucht, stellt sich zudem die Frage: Darf man bestehende Inhalte verwenden oder ist das eine Urheberrechtsverletzung? KI-Programme, die Bilder erzeugen, lesen Informationen aus, setzen sie um und verwerten sie neu. Sind die via Internet von fremden Servern kopierten Informationen Kopien im urheberrechtlichen Sinn? Solche Fragen gilt es nun zu klären, und diese akademischen Fingerübungen werden von Land zu Land unterschiedlich ausfallen. Möglicherweise braucht es auch eine neue Gesetzgebung, denn im Rahmen der Digitalisierung gibt es immer wieder Urheberrechtsnovellen. KI könnte ein Grund für eine solche, vielleicht sogar umfassende, Novelle sein.
Interview: Katharina Zürcher
Zur Person Lukas Abegg
Lukas Abegg arbeitet seit 2013 als Gerichtsschreiber der Abteilung II des Bundesverwaltungsgerichts – mit einem Jahr Unterbruch, während dem er in Berlin seine Doktorarbeit «Patentverletzung durch additive Fertigung (3D Druck)» schrieb. Seit Februar 2021 arbeitet der 41-jährige Marken-, Patent- und Urheberrechtsspezialist zudem stundenweise als Gerichtsschreiber am Bundespatentgericht, was ihm gefällt: «Die Zivilprozesse mit ihren Verhandlungen, Plädoyers und Beweisabnahmen bringen Abwechslung.» Der gebürtige Luzerner, der in Basel studiert hat, wohnt mit seiner Frau, die er am BVGer kennengelernt hat, in Winterthur. Das Paar hat zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren.
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