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Vielfalt und eine gemeinsame Kultur

Die vielfältige Zusammenarbeit am Bundesverwaltungsgericht funktioniert nur mit einer gemeinsamen Kultur des Dialogs und gegenseitigen Respekts. Mit Blick auf die Ethikcharta des BVGer schrieb Richter Gérald Bovier 2021, dass dazu selbständiges Denken, Bescheidenheit und Selbstkritik nötig sind.

22.07.2022 - Gérald Bovier

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Ethikcharta
Foto: Peter Ruggle

Schon in der Präambel der Ethikcharta erscheint die Zusammenarbeit zwischen den Richterinnen und Richtern; zudem auch in den Artikeln 12 und 14. Doch reicht es nicht aus, etwas in einer Ethikcharta festzuhalten. Vielmehr muss es im Arbeitsalltag konkret gelebt werden.

Die Richterinnen und Richter müssen zur Zusammenarbeit bereit sein. Dies umso mehr, als sie ja gerade wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft, Sprache, Geschlecht, Kultur, politischen Meinung usw. gewählt werden. Damit das Gericht richtig funktionieren kann, müssen sie fähig sein, diese Unterschiede zu überwinden. Zwar gibt das Gesetz und auch die Rechtsprechung bestimmte Entscheide vor und der Richter darf diese Verpflichtung nicht aus Subjektivität missachten. Dies ist Inhalt von Artikel 3 der Charta. Aber wenn das Gesetz einen Deutungsspielraum offenlässt, muss die Subjektivität des Richters Platz haben (in den Worten eines ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten «das Vorverständnis»). So will es der Gesetzgeber.

Portrait Gérald Bovier

ZUR PERSON

Gérald Bovier ist seit 2007 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er ist in der Abteilung IV tätig, die sich mit Fällen aus dem Asylbereich befasst. Nach seinem Studium erwarb er ein zweisprachiges (Deutsch/Französisch) Lizenziat in Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg. Er erlangte zudem ein Patent als Rechtsanwalt und ein Diplom als Notar, beide aus dem Kanton Wallis.

Wir wissen es: Es gibt Rechtsgebiete, in denen die Kognition des Richters umfassender ist. In der öffentlichen Debatte wurde diesbezüglich das Asylrecht thematisiert. Tatsächlich werden im Asylgesetz unbestimmte Begriffe verwendet wie Glaubhaftigkeit, Angemessenheit und Zumutbarkeit. Hier sind die Richterinnen und Richter im Arbeitsalltag gefordert, solch unbestimmte Begrifflichkeiten mit Inhalt zu füllen. Es ist ihre Aufgabe, für jede Situation im Spruchkörper (Kollegium) angemessene Lösungen zu finden. Und weil dabei unterschiedlich gewürdigt wird, wurde vorschnell der Schluss gezogen, der Asylbereich sei politisiert. Die Medien, die öffentliche Meinung und in jüngerer Vergangenheit auch die Fakultät haben sich dieser Meinung der Politisierung hingegeben, wo es sich doch lediglich um kulturelle und persönliche Unterschiede handelt. Aktuell läuft es so, dass die Politisierung einseitig angeprangert wird, indem Einzelfälle herausgepickt werden, weil sich diese besser kritisieren lassen. Dass aber alle Richter ihr persönliches Ermessen unterschiedlich ausüben, ist noch lange kein Zeichen einer Politisierung. Dies trifft im Übrigen für alle ausgedrückten Meinungen zu.

« Die einzige Kultur, die wir im Gericht leben müssen, ist die Kultur des Dialogs.»

Gérald Bovier

Heute gilt es, darüber zu wachen, nicht dem Trend aus den USA nachzugeben, bei dem die einen diskreditiert, die anderen hochgejubelt werden. Die sogenannte «Cancel Culture» oder «Zensurkultur» ist gar keine Kultur. Die einzige Kultur, die wir im Gericht leben müssen, ist die Kultur des Dialogs. Und das auch, wenn die Zensurversuchung Europa bereits erreicht hat und in gewissen Medien, Universitäten und in Teilen der öffentlichen Debatte am Werk ist. Unser Gericht kann nur dann richtig funktionieren, wenn es akzeptiert, dass alle seine Mitglieder, die das Gesetz und die Rechtsprechung einhalten, legitim sind.

Vielfalt kann nur mit einer gemeinsamen Kultur des Dialogs und gegenseitigen Respekts funktionieren. Dies erfordert von uns selbständiges Denken, Bescheidenheit und Selbstkritik. Das wünsche ich unserem Gericht, damit es seiner Rolle nachkommen und eine unabhängige Justiz praktizieren kann.

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