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Die Geschichte vom roten Faden

Sollen Urteile Geschichten erzählen? Die Grundsätze gut verfasster Urteile sind eigentlich klar. Warum sie ihm trotzdem manchmal fast den Schlaf rauben, erzählt Tobias Grasdorf in der «Geschichte vom roten Faden».

01.07.2022 - Tobias Grasdorf

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Gerichtsschreiber/innen überprüfen Urteile am Tisch
Foto: Lukas Würmli.

Ein Urteil soll einen roten Faden haben, stringent und logisch aufgebaut sein. Diese und weitere Grundsätze zur guten Redaktion eines Urteils verfolgen mich unterdessen fast bis in den Schlaf – aber was sie bedeuten, ist mir trotzdem noch allzu oft nicht wirklich klar. Ist aber eigentlich auch egal, finde ich dann oft.

Logik, egal? Roter Faden, egal? Kann das wirklich sein?

Nein, natürlich nicht. Aber wenn mich die Arbeit im Projekt Urteilsredaktion eines gelehrt hat, dann dies: Entscheidend ist, dass man sich mit diesen Begriffen auseinandersetzt, nicht, dass man sie «versteht». Allzu oft bringt einen «verstehen» in diesem Zusammenhang nicht wirklich weiter. Die Logik, zum Beispiel: Was «folgerichtig» ist, darüber wird gerade in der Jurisprudenz oft genüsslich gestritten. Und bei «stringent» muss ich sowieso jedes Mal wieder im Duden nachschauen, was das bedeutet: «aufgrund der Folgerichtigkeit sehr einleuchtend, überzeugend; logisch zwingend, schlüssig». Das hilft einem ja dann auch nicht wirklich weiter …

Aber wie gesagt, egal sind die Begriffe deswegen natürlich nicht. Mich hat die Auseinandersetzung damit zum Beispiel etwas zum Thema «roter Faden» gelehrt. Das Urteil soll einen roten Faden haben, wie eine Geschichte.

Wie eine Geschichte, wirklich?

Menschen mögen Geschichten, seit sich Neandertaler am Feuer von ihren Jagderfolgen erzählt und über ihre (Höhlen-)Nachbarn getratscht haben. Geschichten erzeugen Gemeinschaft, Geschichten machen Sinn, das zeigt nicht nur der amerikanische Wahlkampf. Michael Müller formuliert es in seinem 2020 erschienenen Buch «Politisches Storytelling» so: «Die Art und Weise, wie wir Kausalitäten herstellen, Erlebnissen und Ereignissen einen Bedeutungsrahmen und damit Sinn geben, ist die der narrativen Strukturen, Geschichten, Erzählungen.» Erzählen wir in unseren Urteilen Geschichten? Nicht wirklich. Treffender erscheint mir der englische Begriff des «narrative». «Narrative» bedeutet auf Deutsch «Erzählung», aber gerade im politischen Kontext auch «Darstellung»; «Darstellung der Geschichte(n)», gewissermassen. Und darstellen tun wir in unseren Urteilen ja einiges: den Sachverhalt, die Positionen der Parteien, die Rechtslage, die juristische Argumentation. Vielleicht sollten wir also die Darstellungen in unseren Urteilen doch mit Erzählungen in Verbindung bringen. Zum Beispiel in diesem Sinne: Wenn es uns gelingt, unser Urteil so darzustellen wie eine Erzählung, wie eine Geschichte eben – mit einem Spannungsbogen und einem Rhythmus zum Beispiel, die den Fokus auf die zentralen Argumente lenken –, dann hilft das vielleicht den Parteien, das Urteil besser nachzuvollziehen, es vielleicht auch eher zu akzeptieren, es ergibt für sie dann vielleicht «mehr Sinn».

«Geschichten erzeugen Gemeinschaft, Geschichten machen Sinn.»

Tobias Grasdorf

Diese Überlegungen bringen nichts beim Verfassen eines Urteils?

Das ist gerade der Punkt. Mir helfen sie, weil sie das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem Thema sind. Diese Auseinandersetzung ist – meines Erachtens – unsere Aufgabe als Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber, wenn wir unsere Urteile besser machen wollen. Und das kann uns niemand abnehmen, keine Richterin, kein Professor, keine Expertin. Da müssen wir selber ran. Was es dazu aus meiner Sicht vor allem braucht, ist: Selbstreflexion. Alleine, im stillen Kämmerlein, aber vor allem in der Diskussion mit anderen. Und vielleicht kann das Merkblatt «Struktur eines Urteils» und ein Workshop unter Gerichtsschreiber/innen und Richter/innen zum Thema dazu die eine oder andere Anregung liefern.

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