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Mehrsprachigkeit braucht die Unterstützung aller

Als Delegierte des Bundes für Mehrsprachigkeit wacht Nicoletta Mariolini über die Sprachenvielfalt in der Schweiz. Sie beobachtet, dass Französisch immer wichtiger wird und Schweizerdeutsch oft eine berufliche Barriere darstellt.

21.06.2021 - Katharina Zürcher

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Schweizer Zunge
Foto: iStock

Nicoletta Mariolini, wir haben uns für dieses Interview auf die Sprache Deutsch – mit Übersetzungen auf Französisch und Italienisch – geeinigt. Was hätten Sie gesagt, wenn ich Sie um ein Interview in Englisch gebeten hätte?

Seit ich mein Mandat angetreten habe, habe ich mir eine Regel gesetzt: In der Schweiz drücke ich mich nur in unseren Landessprachen aus; Englisch ist Kommunikations- und Arbeitssprache mit internationalen Partnern.

Was bedeutet Mehrsprachigkeit für Sie persönlich?

Für mein mehrsprachiges Leben brauche ich eine hohe mentale Flexibilität, um immer wieder schnell von einer Sprache in die andere wechseln zu können. Auch wenn das manchmal ermüdend sein kann, finde ich die Beschäftigung mit den verschiedenen Kulturen und Regionen unseres Landes äusserst spannend. Der Respekt für und das Wertschätzen von Minderheiten sowie das Erkennen der Vielfalt sind mein roter Faden.

Und was bedeutet die Mehrsprachigkeit für unser Land?

Kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit gehören zum ureigenen Wesen der Schweiz, unserer aus 26 Kantonen bestehenden Willensnation. Drei Kantone – Freiburg, Bern und Wallis – sind zweisprachig, der Kanton Graubünden ist dreisprachig. Die schweizerische Eidgenossenschaft garantiert die individuellen sprachlichen Rechte sowie die Freiheit, in der eigenen Sprache arbeiten, denken und leben zu können. Ausserdem gewährleistet sie die Chancengleichheit für jede der vier Sprachgemeinschaften. In diesem Sinn bedeutet die Mehrsprachigkeit für alle Personen in unserem Land – individuell wie gemeinsam – sowohl Reichtum als auch Herausforderung.

Wie sieht das Verhältnis der Sprachen im schweizerischen Alltag aus?

Gemäss statistischen Angaben aus dem Jahr 2018 sprechen 58 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren zu Hause üblicherweise Schweizerdeutsch, 24 Prozent sprechen Französisch, 11 Prozent sprechen Hochdeutsch und 8 Prozent Italienisch. Eine spezielle Rolle spielt der Dialekt. Da er nicht mit der Standardsprache übereinstimmt, stellt er für Menschen mit Deutsch als Zweit- oder Drittsprache eine kommunikative oder sogar berufliche Barriere dar. Interessant ist auch, dass zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung im Umgang mit ihren Angehörigen, bei der Arbeit, beim Fernsehen oder Internetsurfen mindestens einmal pro Woche mehr als eine Sprache nutzen.

«Interessant ist auch, dass zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung im Umgang mit ihren Angehörigen, bei der Arbeit, beim Fernsehen oder Internetsurfen mindestens einmal pro Woche mehr als eine Sprache nutzen.»

Nicoletta Mariolini

Im Deutschschweizer Alltag können Sprachen wie Portugiesisch oder Albanisch eine grössere Rolle spielen als Französisch oder Italienisch, werden aber nicht gefördert.

Gemäss Bundesamt für Statistik werden neben den Landessprachen als häufigste Hauptsprachen Englisch und Portugiesisch genannt. In der Schweiz spielt das Französisch klar eine grössere Rolle als Englisch, auch im Arbeitsumfeld. Liegt der Fokus nur auf den Hauptsprachen, ist auch das Italienische wichtiger als Englisch. Die Förderung der Landes- bzw. Amtssprachen entspricht meinem Mandat. Wichtig finde ich aber, dass keine Konflikte im Bereich der verschiedenen Sprachen entstehen. Unsere Mehrsprachigkeit braucht die Unterstützung aller.

Zu einer Sprache gehört eine ganze Kultur, eine eigene Sicht auf die Welt. Funktioniert die Verständigung in der Schweiz weniger gut als in einem einsprachigen Land?

Überall dort, wo man Minderheiten mit Engagement, Offenheit und Respekt begegnet, funktioniert die Verständigung. Das ist unabhängig vom sprachlichen Kontext.

In der Deutschschweiz wird heutzutage oft Englisch als erste Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet. Wie wichtig ist der Sprachunterricht in der Schule?

Dem Sprachenlernen kommt in der föderalistischen und mehrsprachigen Schweiz traditionsgemäss eine wichtige Rolle zu: Während der obligatorischen Schulzeit lernen die Schülerinnen und Schüler nebst der jeweiligen Unterrichtssprache eine zweite Landessprache sowie Englisch. Effektive Mehrsprachigkeit in Wort, Schrift und auch in Bezug auf kulturelle Offenheit beginnt in der frühen Kindheit. Je mehr Mehrsprachigkeit zur Normalität der Kinder gehört, desto mehr wird sie auch in Zukunft eine Normalität sein.

Am Bundesverwaltungsgericht ist die mehrsprachige Zusammenarbeit gelebter Alltag. Haben Sie Tipps zur Pflege der Mehrsprachigkeit?

Die Pflege der Mehrsprachigkeit ist sowohl mit dem individuellen als auch mit dem institutionellen Willen verbunden. Die Mechanismen zur Gewinnung, Evaluation und Auswahl von neuen Mitarbeitenden sind sehr wichtig im Hinblick auf die soziokulturelle und sprachliche Zusammensetzung des Personals. Sie sind auch bedeutsam in Bezug auf die mehrsprachige Funktionsweise sowie die Beziehungen zu allen Landesteilen. Wie die Verwaltung beachten auch die Gerichte eine korrekte Vertretung der Sprachgemeinschaften.

«Sensibilisierungs- und Informationsanlässe können die Chancengleichheit und eine korrekte Vertretung der Sprachgemeinschaften unterstützen.»

Nicoletta Mariolini

Was ist bei der Personalrekrutierung zu beachten, damit die korrekte Vertretung der Sprachgemeinschaften gelingt?

Sensibilisierungs- und Informationsanlässe können die Chancengleichheit und eine korrekte Vertretung der Sprachgemeinschaften unterstützen. Die Stellenangebote sollen konkret formuliert und können in allen Sprachregionen publiziert werden. Das Bewerbungsgespräch sollte grundsätzlich so organisiert sein, dass sich die Bewerbenden in der Amtssprache ihrer Wahl ausdrücken können und die Personalverantwortlichen den kulturellen Unterschieden Rechnung tragen. Die Möglichkeit der teilweisen Telearbeit kann Bewerbende aus weiter entfernten Regionen motivieren.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Werden die Landessprachen in zehn Jahren gegenüber Englisch an Bedeutung verloren haben?

Ich denke nicht. Erhebungen belegen, dass sich die Menschen bei beruflichen Kontakten über die eigene Sprachregion hinaus öfter in einer Landessprache verständigen als in Englisch.

Dann lohnt es sich nach wie vor, in die Aus- und Weiterbildung der Landessprachen zu investieren?

Auf jeden Fall. Eine Nationalfondsstudie zeigt, dass Schweizer Unternehmen mehr Personal mit Landessprachenkenntnissen als solches mit Englischkenntnissen benötigen. Dies gilt sowohl für die Deutschschweiz als auch für die Romandie. Englisch ist zweifellos nützlich, aber die Landessprachen sind im Berufsleben ebenso nützlich, oft sogar noch nützlicher. Entsprechende Sprachkenntnisse zahlen sich auch finanziell aus.

Lässt sich dies messen?

Bei vergleichbarer Ausbildung und Berufserfahrung führen zum Beispiel gute oder sehr gute Französisch- respektive Deutschkenntnisse bei Männern zu einem Lohnzuschlag von 14 Prozent, und zwar in der Deutschschweiz wie in der Romandie. In der italienischsprachigen Schweiz beträgt dieser Zuschlag für beide Sprachen gar 17 Prozent. In diesem Bereich wird zurzeit geforscht. Je mehr wir die wirtschaftlichen Vorteile unserer Mehrsprachigkeit hervorheben und kommunizieren können, desto mehr werden wir in die Bewahrung unseres sprachlichen Erbes investieren. Das ist unsere zukünftige Herausforderung!

Portrait Nicoletta Mariolini

Delegierte des Bundes für Mehrsprachigkeit

Nicoletta Mariolini wurde 2013 vom Bundesrat zur Delegierten des Bundes für Mehrsprachigkeit ernannt. Seither wacht sie im Rahmen der Politik zur Förderung der Mehrsprachigkeit über den Gesetzesvollzug und unterstützt Bundesrat, Departemente und Verwaltungseinheiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie arbeitet mit kantonalen Stellen und nationalen Gremien zusammen, die sich mit der Förderung der Mehrsprachigkeit befassen. Alle vier Jahre veröffentlicht sie einen Evaluationsbericht und Empfehlungen zur Mehrsprachigkeitspolitik. Die Tessinerin, die in Lausanne Wirtschaftswissenschaften studiert hat, lebt und arbeitet in Bern und Lugano. 

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