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Die Ethikcharta ist wichtiger denn je

Gérald Bovier, Richter der Abteilung IV, über die Bedeutung der Ethikcharta des Bundesverwaltungsgerichts.

18.11.2020 - Gérald Bovier

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Ethikcharta des BVGer
Die Ethikcharta des Bundesverwaltungsgerichts. Foto: Lukas Würmli

Die Justiz ist gegenwärtig mit Kritik aus dem Parlament, den Medien, der Zivilgesellschaft und kürzlich sogar aus der Fakultät konfrontiert. Einmal wird uns vorgeworfen, nicht genug für die Erreichung unserer Ziele zu tun, ein andermal, nicht effizient zu funktionieren oder unsere Urteile auf politische statt auf rechtliche Kriterien abzustützen. Dies ist gravierende Kritik, die selbstverständlich ernstgenommen werden muss. Einige Stimmen äussern die Meinung, dass angesichts der Dringlichkeit und der herrschenden Notlage müsse unsere Organisation und Funktionsweise geändert werden. Einige gehen dabei so weit, die Grundsätze unserer Ethikcharta zu hinterfragen.

Die Ethikcharta als Richtschnur

Damit wird allerdings etwas voreilig ausser Acht gelassen, wer wir sind und weshalb wir uns diese Prinzipien gegeben haben. Sie sind nämlich Verhaltensregeln für unseren Gerichtsalltag, damit wir unseren Kernauftrag erfüllen können, der darin besteht, in einem möglichst harmonischen Arbeitsklima gute und unparteiische Entscheide zu fällen. Wir haben diese Regeln im Bewusstsein erlassen, dass wir einen Service-Public erfüllen. Sie widerspiegeln den Gedanken, dass unsere Aufgabe kein Selbstzweck ist.

«Die Ethikcharta erinnert an die grundlegenden Prinzipien unserer Funktionsweise. Sie enthält die Grundsätze, die uns dabei leiten sollen, all die Schwierigkeiten zu überwinden, die den eigentlichen Rechtssachen fremd sind.»

Gérald Bovier

Doch sind diese Regeln im Alltag tatsächlich nicht einfach auszuleben und es muss immer wieder daran gearbeitet werden. Wir alle, die wir das Gericht bilden, sind Ausdruck der Gesellschaft als Ganzes in ihrer ganzen Vielfalt, Reichhaltigkeit, aber auch ihren Widersprüchen – eine gespaltene, mitunter zerrissene Gesellschaft, wenn es darum geht, aktuelle gesellschaftliche Themen zu beurteilen. Daher müssen wir darüber nachdenken, wie wir zusammenarbeiten wollen. Und genau hier sind Verhaltensregeln willkommen, die eine allgemeine Richtschnur vorgeben. Sie sind nützlich, obwohl sie allgemein gehalten und nicht verbindlich sind, obwohl sie Fragen aufwerfen, die sie nicht endgültig beantworten: Wie weit reicht die Unabhängigkeit? Ist Unparteilichkeit möglich, wenn jeder seine Kultur, seinen Lebensweg und seine Werte mitbringt? Wo beginnt ein Vorurteil? Wie weit geht der Respekt der Mitmenschen, wenn ein Richter immer auch seine Unabhängigkeit bekräftigen soll?

Ein Gleichgewicht finden

Hier müssen wir einen Modus Vivendi finden. Das ist eine Frage des Gleichgewichts, wie immer, wenn es um das Zusammenleben und -arbeiten geht. Unsere Umwelt ist extrem kritisch geworden. In ihr leben wir, inmitten ihrer Realitäten und Strömungen, und können ihr nicht entkommen. Vielmehr haben wir einen verfassungsmässigen Auftrag und die Bürger vertrauen uns. Wir müssen uns dieses Vertrauens würdig erweisen, trotz der gesellschaftlichen Polarisierung und trotz der widersprüchlichen Erwartungen, die sie generiert.

Die Ethikcharta erinnert an die grundlegenden Prinzipien unserer Funktionsweise. Sie enthält die Grundsätze, die uns dabei leiten sollen, all die Schwierigkeiten zu überwinden, die den eigentlichen Rechtssachen fremd sind. Ihre Grundsätze sollen uns helfen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, und uns ermöglichen, den nötigen Abstand zu gewinnen, um bessere Urteile fällen zu können. Im aktuellen Kontext ist die Ethikcharta deshalb notwendiger denn je. Sie soll uns inspirieren, um unsere Unabhängigkeit als Institution, unsere Rolle als dritte Gewalt zu bekräftigen und uns nicht in Streitigkeiten hineinziehen zu lassen. Wir wollen auf diesen Text stolz sein und auf unsere Vorreiterrolle, als wir ihn verabschiedet haben!

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