"Gerichte dürfen nicht politisch entscheiden"

Einflussnahme von Parteien auf die richterliche Tätigkeit kann die Unabhängigkeit der Justiz gefährden. Laut Präsidentin Marianne Ryter ist sie mit Blick auf die Verfassung auch nicht zulässig.

23.03.2020 - Katharina Zürcher

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Présidente Marianne Ryter dans la bibliothèque du tribunal
La présidente du tribunal Marianne Ryter sur l'indépendance de la justice. Photo: TAF

Marianne Ryter, hat Ihre Parteizugehörigkeit in Ihrer richterlichen Tätigkeit schon einmal eine Rolle gespielt?

In der Rechtsprechung noch nie. Betreffend Wahlen wurde die Parteizugehörigkeit erstmals bei der Konstituierung des Bundesverwaltungsgerichts ein Thema; vorher bei den Rekurskommissionen spielte sie keine Rolle, es wurde nicht einmal danach gefragt.

In der Schweiz muss man Mitglied einer politischen Partei sein, um als Richterin gewählt zu werden. Beeinträchtigt das die richterliche Unabhängigkeit?

Die richterliche Unabhängigkeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Unter anderem soll sie verfassungsrechtlich die Gewaltenteilung gewährleisten. Insofern steht das Wahlerfordernis, wonach jede Richterin und jeder Richter einer Partei anzugehören hat, in einem Spannungsverhältnis dazu. Allein die Parteimitgliedschaft stellt noch keine Beeinträchtigung dar. Wird sie aber mit Erwartungen der Parteien an die Richterinnen und Richter respektive an die richterliche Tätigkeit verbunden, ist das problematisch. Die Parteimitgliedschaft kann zudem den Anschein von Befangenheit wecken und damit das Ansehen und die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigen.
 
Warum ist die richterliche Unabhängigkeit so wichtig?

Die richterliche Unabhängigkeit ist für den Rechtsstaat unverzichtbar – die rechtsuchende Bürgerin muss darauf vertrauen können, dass ihr Fall vom gesetzlich bestimmten Gericht einzig und allein nach Recht und Gesetz und somit unabhängig beurteilt wird. Die Justiz lebt vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Je grösser das Vertrauen in die Justiz ist, umso eher werden die Urteile akzeptiert.
 
Welches Auswahlverfahren würde die Unabhängigkeit stärken?

Eines, das die qualitativen Anforderungen in den Vordergrund stellt. Wer das Richteramt ausüben soll, muss hierfür die notwendigen Voraussetzungen – fachliche, menschliche und soziale Kompetenzen – mitbringen. Weiter ist erforderlich, dass die Richter/innen fähig und bereit sind, sich mit dem eigenen Selbstverständnis und den eigenen Wertauffassungen kritisch und im kollegialen Diskurs auseinanderzusetzen. Interessant ist, dass beispielsweise Frankreich, Österreich und Deutschland eine eigentliche Ausbildung bzw. Laufbahn zur Richterin vorsehen. Ähnliche Bestrebungen bestehen ja auch in der Schweiz, etwa mit dem CAS Judikative.

Ist es nicht ein Vorteil, wenn die Bürger anhand der Parteizugehörigkeit der Richterinnen wissen, woran sie sind?

Die Parteizugehörigkeit und damit verbunden ein allfälliger Brückenschlag zu einer Parteilinie oder -haltung darf die richterliche Tätigkeit nicht bestimmen: Die Richter/innen sind allein dem Gesetz und der Verfassung und damit der Entscheidfindung unabhängig von jeglicher externen oder internen Einflussnahme verpflichtet. Das ist der Amtseid, den wir ablegen. Unsere Entscheide haben zwar politische Auswirkungen, aber die Gerichte dürfen nicht politisch urteilen.

Dennoch sind auch Richter keine Inseln. Sie wählen ja sicher eine Partei, hinter deren Zielen sie stehen können.

Selbstverständlich bringt jede Person ihre Berufs- und Lebenserfahrung sowie ihre Werte mit, die sie prägen und die in einem Wahlverfahren auch thematisiert werden dürfen. Aber die Zugehörigkeit zu einer Partei darf nicht Teil der Richteridentität sein. Das ist zentral, nicht nur in Bezug auf die Gewaltentrennung: Rechtssuchtende möchten ihren Fall nicht von jemandem beurteilt haben, der eine bestimmte Parteilinie im Kopf hat oder unter Erwartungsdruck einer Partei steht, sondern von einer fachkompetenten Richterin.

«Die Justiz lebt vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Je grösser das Vertrauen in die Justiz ist, umso eher werden die Urteile akzeptiert»

Marianne Ryter

Das Parlament als Gesetzgeber bezieht seine Legitimation zur parteipolitischen Richterwahl daraus, dass die Gerichte rechtsfortbildend wirken und so neue Gesetzgebung schaffen.

Diese Argumentation, welche das Demokratieprinzip in den Vordergrund stellt, ist für mich verkürzt und gibt dem Rechtsstaatsprinzip zu wenig Gewicht. Zudem müsste gerade nach dieser Auffassung heute, wo die Bürgerinnen und Bürger zunehmend nicht mehr parteipolitisch aktiv sind und abstimmen, die Wahl von Parteilosen ins Richteramt vorgesehen werden.

In den Medien war zu lesen, dass zum Teil Richter/innen zitiert wurden, um sie auf Parteilinie zu bringen, oder dass sie im Rahmen von Wiederwahlen abgestraft wurden.

Mit Blick auf die Verfassung ist es nicht zulässig, wenn die Parteien die Richterinnen und Richter als ihre Vertreter betrachten und sie zu Aussprachen zitieren oder versuchen, Mitglieder der Justiz auf Parteilinie zu bringen. Aus diesem Grund empfiehlt die Staatengruppe gegen Korruption GRECO unter anderem auch, die Amtszeitbeschränkung abzuschaffen.

Was soll gemacht werden, wenn Richter ihre Arbeit nicht zufriedenstellend erledigen?

Zuerst müsste diskutiert werden, was eine zufriedenstellende richterliche Arbeit ist. Weiter ist für die Richterinnen und Richter der sogenannten erstinstanzlichen Bundesgerichte bereits ein ordentliches Abberufungsverfahren vorgesehen. Die Wiederwahl beziehungsweise die Nicht-Wiederwahl ist jedenfalls nicht das richtige Verfahren: Es ist intransparent und willkürlich.

Die GRECO empfiehlt auch die Abschaffung der Mandatssteuern, die je nach Partei zwischen 3000 und 20‘000 Franken jährlich betragen. Gerade die linken Parteien sind aber auf dieses Geld angewiesen.

Das Richteramt ist kein politisches Amt und schliesst eben gerade das Einbinden in eine parteipolitische Linie aus, weshalb meiner Auffassung nach auch keine Mandatssteuer auszurichten ist. Diese erhöht zudem den Anschein der Befangenheit beziehungsweise der Abhängigkeit von einer Partei. Weiter führen die Mandatssteuern angesichts der beträchtlichen Unterschiede zu einer Ungleichbehandlung der Gerichtsmitglieder.

Was halten Sie von der Justiz-Initiative, welche die Richterwahl dem Los überlassen will

Sie ist für mich Ausdruck eines Unbehagens in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz. Mit medialer Unterstützung wird heute sehr darauf geachtet, welcher Richter welcher Partei welches Urteil gefällt hat. Damit wollen und sollen die Rechtssuchenden nicht rechnen müssen. Einem Losverfahren kann ich nicht viel abgewinnen, aber: Das Unbehagen ist da, und es sollte ernst genommen werden.

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