Das Wichtigste ist zu wissen, was man will

Laut Andreas Hirschi ist man am zufriedensten, wenn Arbeit und Freizeit mit den eigenen Werten in Einklang stehen. Dazu empfiehlt der Berner Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie regelmässige Standortbestimmungen.

07.02.2023 - Katharina Zürcher

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Portrait Andreas Hirschi
Andreas Hirschi, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern. Foto: zVg

Andreas Hirschi, Sie sind Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern. Haben Sie Ihre eigene Karriere geplant?

Ich wusste, dass ich im Hochschulkontext arbeiten will und hoffte, einmal eine Professur zu bekommen. Alles andere hat sich ergeben und hätte sich auch gar nicht im Detail planen lassen. Ganz allgemein ist es das Wichtigste zu wissen, was man will. Die einzelnen Schritte hängen dann von vielen Faktoren ab, die zu planen meist nicht möglich oder gar nötig ist.

Es braucht also keine Laufbahnberatung?

Eine Laufbahnberatung kann durchaus sinnvoll sein. Doch auch hier lassen sich nicht alle Schritte vorwegnehmen. Es lohnt sich aber, zentrale Fragen zu klären: Was ist mir wichtig, was für ein Leben möchte ich führen? Was kann ich gut, welche Art von Arbeit mag ich? Welche Rolle spielt die Arbeit in meinem Leben? Gemäss Forschung sind jene Leute am zufriedensten, die das tun, was ihren Werten entspricht. Oder anders gesagt: Eine Laufbahn ist dann erfolgreich, wenn die Ziele, die einem persönlich wichtig sind, erreicht werden.

Und wenn sich diese Werte und Ziele im Lauf des Lebens verändern?

Das tun sie ziemlich sicher. Deshalb braucht es mehrmals im Leben eine Standortbestimmung. Klassische Punkte dafür sind der Abschluss der Schule oder des Studiums, der Wiedereinstieg nach einer Familienphase, eine Arbeitslosigkeit, das Ausziehen der Kinder, der Ruhestand. Eine Beratung kann auch sinnvoll sein, wenn sich äussere Umstände verändern oder sich Unzufriedenheit mit der Arbeit breitmacht. Idealerweise macht man alle zwei bis drei Jahre eine Standortbestimmung – allein, mit jemand Vertrautem oder einer Fachperson.

Sie erforschen die erfolgreiche Laufbahnentwicklung über die Lebensspanne. Was entscheidet über Erfolg oder Misserfolg einer Berufskarriere?

Ich arbeite mit dem Laufbahnressourcenmodell, das auf den Faktoren fokussiert, welche helfen, erfolgreich zu sein. In einem ersten Schritt sollte man sich Klarheit über die eigene Definition von Erfolg oder Misserfolg verschaffen. Erfolgreich zu sein bedeutet nicht unbedingt, möglichst viel Geld zu verdienen. Es kann auch heissen, eine bedeutungsvolle Arbeit für die Gesellschaft zu verrichten oder ein ausgeglichenes Leben zu führen. In einem zweiten Schritt kommen dann die Faktoren ins Spiel, die diese Zielerreichung unterstützen oder hemmen.

Welches sind unterstützende Faktoren?

Zum einen das nötige Wissen und die erforderlichen Kompetenzen, sowohl fachliche als auch überfachliche. Dann kommen sogenannte Umweltressourcen hinzu: die Unterstützung durch den Arbeitgeber, die Familie, Freunde. Auch psychologische Motivationsfaktoren wie Selbstvertrauen und Gestaltungswille spielen eine grosse Rolle. Wenn ich mir regelmässig überlege, was ich eigentlich möchte und ob ich dazu noch auf dem richtigen Weg bin, kann ich verschiedene Ressourcen aufbauen und pflegen und meine Laufbahn proaktiv gestalten.

Gehören zur Laufbahngestaltung auch ausserberufliche Engagements wie Freiwilligenarbeit, Politik oder Sport

Ausserberufliche Engagements können Teil der eigenen Definition von Erfolg sein und somit ein Erfolgskriterium darstellen. Zudem kann man sich im ausserberuflichen Kontext Ressourcen aufbauen, die einem auch im Beruf nützen. Wichtig scheint mir, dass man sich überlegt, wie ausserberufliche Engagements mit der Erwerbsarbeit zu vereinbaren sind. Bei der Planung geht man am besten vom Allgemeinen zum Konkreten vor, also von der Frage, was ich arbeiten will, bis zur Frage, wie ich dort, wo ich gerade bin, verhandle.

Mein Weg

«Viamia» heisst ein kostenloses Angebot zur beruflichen Standortbestimmung, welches der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen realisiert hat. Darin kommen Modelle zur Anwendung, die das Team von Andreas Hirschi von der Universität Bern entwickelt hat. Interessierte können sich bei viamia.ch informieren oder sich bei der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung ihres Wohnkantons melden. (zuk)

Frauen wählen oft Teilzeitarbeit, um Job und Familie besser vereinbaren zu können. Bedeutet Mutterschaft noch immer ein Karriereknick?

Häufig ja. Laut Statistiken ist das verbreitetste Modell von Paaren mit Kindern: Die Frau arbeitet Teilzeit, der Mann Vollzeit. Andere Modelle sind selten. Das bedeutet oft Einbussen für die Laufbahn. Dennoch gehen viele Frauen Kompromisse ein und tauschen Flexibilität gegen Gehalt und Karrierefortschritte. Studien zeigen, dass Frauen grundsätzlich etwas weniger Wert auf Status, Gehalt und Einkommen legen. Haben sie Kinder, verstärkt sich diese Tendenz noch. Wenn junge Frauen dies schon bei der Berufswahl oder Karriereplanung vorwegnehmen, limitieren sie sich bereits vorausschauend.

Wie kann dem entgegengewirkt werden?

Einerseits auf einer individuellen, andererseits auch auf einer gesellschaftlichen Ebene. Vieles hängt mit der Geschlechterrolle zusammen, und da ist die Schweiz als reiches westliches Land leider noch sehr konservativ. In vielen Köpfen ist stark verankert, was eine Frau machen soll und wie sie sein soll. Unternehmen und Organisationen haben aber auch viel Einfluss, indem sie flexible Arbeitsformen ermöglichen, Karrierefortschritte und Pensum entkoppeln, Auszeiten ermöglichen. Je flexibler eine Organisation ist, umso weniger bestraft sie die Frauen, denen Flexibilität fehlt in der Laufbahnentwicklung.

Wie sieht es aus Sicht der Arbeitgebenden aus: Lohnt es sich auch für sie, ihren Mitarbeitenden mehr Flexibilität zu ermöglichen?

Arbeitgebende, die ihren Angestellten eine bessere Vereinbarkeit mit Familienarbeit oder ausserberuflichem Engagement ermöglichen, sind attraktiver. Sie ziehen nicht nur mehr Leute an, sondern können auch jene halten, die sonst abspringen würden. Zudem führt es zu grösserer Diversität. Denn je enger die Vorgaben sind, desto eher zieht man nur einen ganz bestimmten Typ Mensch an. Flexible Arbeitgeber hingegen finden ganz verschiedene Arten von Leuten, die motiviert sind und zudem ausserberufliche Kompetenzen mitbringen.

Flexibilität kann dem Arbeitgeber auch Kosten verursachen.

Natürlich verursacht Flexibilität auch Kosten und Aufwand, indem etwa der Koordinationsaufwand grösser wird. Häufig sind es aber mehr unternehmenskulturelle als faktische Gründe, die der Flexibilität entgegenstehen. Dazu kommt: Vorgesetzte, die aufgrund eigener Erfahrung glauben, dass ihre Mitarbeitenden nur bei einer Arbeitsleistung von 70 Wochenstunden erfolgreich sein können, prägen die Unternehmenskultur. Oft, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Wie lässt sich denn eine Unternehmenskultur ändern?

Wenn kulturelle Gründe einer Flexibilität entgegenstehen, kommt den Führungskräften eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen trainiert werden. Vorurteile und Annahmen wie jene, dass Teilzeitarbeitende weniger motiviert sind als Vollzeitmitarbeitende, müssen hinterfragt werden. Und Führungskräfte sollten nicht nur an der Teamleistung gemessen werden, sondern auch daran, inwieweit sie Teilzeitarbeit erlauben. Denn Teilzeitarbeit ist noch immer stigmatisiert. Dabei optimieren Teilzeitarbeitende häufig ihre Leistungsfähigkeit.

Woraus ziehen Menschen eigentlich ihre Motivation für die Arbeit?

Menschen sind extrinsisch und intrinsisch motiviert. Bei der extrinsischen Motivation geht es um Geld und Sicherheit, aber auch um Anerkennung und Lob. Die intrinsische Motivation schöpft aus der Sinnhaftigkeit und Bedeutung der Arbeit und daraus, ob sie zu einem passt und man seine Stärken und Interessen dafür anwenden kann. Auch Entwicklungsmöglichkeiten spielen eine Rolle und dass die Arbeit als spannend und herausfordernd empfunden wird. Soziale Aspekte können ebenfalls motivieren, etwa die Verbundenheit mit den Arbeitskollegen. Sie zu verlieren ist eine Gefahr bei der rein digitalen Arbeit.

Wirkt sich die zunehmende Digitalisierung also auch auf die Organisationskultur aus?

Ja, die Digitalisierung führt zu einem Kulturwandel. Die Technik ermöglicht zwar viel Flexibilität, hat aber mit der permanenten Erreichbarkeit auch eine Schattenseite. Damit muss man sehr bewusst umgehen. Es darf nicht erwartet werden, dass Mitarbeitende 24 Stunden am Tag verfügbar sind oder auch am Samstag Mails beantworten. Die Führungskräfte sollten das kommunizieren und vorleben, indem sie darauf verzichten, nachts oder am Wochenende E-Mails zu verschicken. Flexibel zu arbeiten ist kein Geschenk der Organisation, sondern normaler Teil der Arbeitsgestaltung.

Wer wenig vor Ort arbeitet, identifiziert sich möglicherweise nicht mehr im gleichen Umfang mit seinem Arbeitgeber. Was bedeutet das für die Organisationskultur?

Es gibt noch nicht viel gute Forschung hierzu, doch es ist ein allgemeiner Trend, dass sich Leute weniger über die Arbeit definieren und sich weniger mit dem Arbeitgeber identifizieren als früher. Umgekehrt werden sie von diesem auch weniger gepflegt; sie sind selbst verantwortlich sind für ihre Laufbahn. Das schmälert die emotionale Verbundenheit. Und die digitale Art des Arbeitens verstärkt das noch. Da muss man sich bewusst überlegen, was für eine Organisation, eine Abteilung, ein Team oder eine bestimmte Art von Job das Beste ist.

Portrait Andreas Hirschi

ZUR PERSON

Andreas Hirschi (46) ist Ordentlicher Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern. Er forscht zu den Themen Berufswahl, Karriereentwicklung und Laufbahnberatung. In der Lehre ist er unter anderem in der Aus- und Weiterbildung von Berufs- und Laufbahnberatenden tätig. Hirschi ist Vater einer erwachsenen Tochter und verbringt seine Freizeit unter anderem mit Klettern und Mountainbiken.

An unserem Gericht kommen die Beschäftigten aus allen Landesteilen; viele haben ihren Lebensmittelpunkt nicht in St. Gallen. Wie kann da das Miteinander gestärkt werden?

Wichtig scheint mir, persönliche Beziehungen herzustellen. Das kann auch online passieren, indem Meetings nicht nur sachbezogen abgehalten werden oder Kaffeepausen virtuell stattfinden. Es braucht aber auf jeden Fall auch physische Momente – soziale Events sind wichtig. Vieles hängt von der Kommunikation der Führungskraft ab. Sie soll die Organisationskultur vermitteln und aufzeigen, wie der individuelle Beitrag mit den Beiträgen anderer verknüpft ist.

Verändert sich der Stellenwert der Arbeit im Lauf des Lebens?

Nein, aber es verändert sich das, was man bei der Arbeit wichtig findet. Bei jüngeren Leuten steht im Vordergrund, selbst etwas aufzubauen, eine Karriere im klassischen Sinn zu machen. Demgegenüber möchten ältere Menschen mehr positive Erfahrungen und mehr Sinnhaftigkeit. Sie machen eher das, was ihnen Spass macht, wollen etwas weitergeben. Die Arbeit ist für sie deshalb aber nicht weniger wichtig als in jungen Jahren.

Die Pensionierung ist für viele eine Zäsur. Welches sind die Chancen und Risiken dieser Lebensphase?

Die klare Trennung zwischen Erwerbsarbeit und Pensionierung verschwindet zunehmend: Immer mehr Leute gehen auch im Alter einer Erwerbsarbeit nach – in Teilzeit oder selbständig. Das hat auch damit zu tun, dass die Altersvorsorge schlechter wird. Viele leisten zudem Familienarbeit, sei es für betagte Eltern oder Enkelkinder. Heute lebt man nach der Pensionierung noch durchschnittlich zwanzig Jahre – das ist eine lange Zeit, um nichts zu tun.

Dann endet die Laufbahn im Ruhestand nicht?

Häufig wird die Arbeit, die man vorher gemacht hat, in einer leicht anderen Form weitergeführt; manchmal wird auch etwas ganz Neues angepackt. Aber eine Form von Arbeit passiert auch in dieser Lebensphase, weshalb es sich lohnt, auch diese aktive Laufbahnphase gut vorzubereiten. Gerade arbeitsbezogene Menschen sollten schon etwa fünf Jahre vor der Pensionierung anfangen, Beschäftigungen ausserhalb der Erwerbsarbeit mehr Gewicht zu geben. Die Forschung zeigt, dass Menschen umso zufriedener und glücklicher sind, je fliessender sie den Übergang gestalten und je besser sie ihre Lebens- und Laufbahnfragen geplant haben.

Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft. Wie sieht unsere Arbeitswelt in zehn Jahren aus? Welche Qualitäten werden gefragt sein?

Unsere Arbeitswelt wird sich fundamental verändern, vor allem wegen der Digitalisierung. Es ist aber schwer vorauszusagen, wie sie aussehen wird oder welche Kompetenzen in zehn Jahren gefragt sein werden. Gerade weil sich so viel verändert, ist es gut, die Laufbahn proaktiv zu gestalten und nicht zu warten, bis etwas passiert. Dann entwickelt man auch ein gewisses Vertrauen, mit Veränderungen umgehen zu können.

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