Gerechtigkeit verwirklichen

Laut Anne Kühler ist Gerechtigkeit ein Ideal, dem sich die Rechtsordnung annähern sollte. Die ehemalige BVGer-Gerichtsschreiberin befasst sich an der Uni Zürich mit Recht, Moral und Gerechtigkeit.

11.01.2021 - Katharina Zürcher

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Portrait Anne Kühler
Anne Kühler, Oberassistentin am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Foto: Daniel Winkler

Anne Kühler, Sie haben Recht und Philosophie studiert. Hat sich Ihre Sicht auf das eine durch das Studium des anderen verändert?

Für die Philosophie ist das Erarbeiten grundlegender Begriffe – zum Beispiel der Person, Vernunft, Autonomie oder Praxis – sehr wichtig. Demgegenüber arbeiten wir im Recht mit Begriffen, die durch Verfassung, Gesetze und Rechtsprechung bestimmt werden. Während der philosophische Diskurs sehr offen ist, grenzen rechtlich-institutionelle Regelungen den juristischen Diskurs von vornherein ein. Das Philosophiestudium hat mir auch die Augen dafür geöffnet, dass viele unserer rechtlich-politischen Errungenschaften nicht selbstverständlich und fragil sind. So sahen selbst grosse Philosophen in Missständen wie der Sklaverei oder der Unterdrückung von Frauen, die wir heute rechtlich sanktionieren und als Unrecht empfinden, kein Problem.

Das Ideal des Rechts ist die Gerechtigkeit. Wer entscheidet, was gerecht ist?

Das ist eine grosse Frage in der Debatte über Gerechtigkeit. Was im Einzelfall gerecht ist, entscheiden die Gerichte, werden Recht und Gerechtigkeit doch massgeblich durch die Rechtsprechung der Gerichte verwirklicht. Dies bedarf der öffentlichen Vermittlung und Wahrnehmung, damit die Bürgerinnen und Bürger kontrollieren können, ob das Recht auch richtig und gerecht angewendet und durchgesetzt wird. Eine solche Wächterfunktion der demokratischen Öffentlichkeit gehört zum Kern unseres Demokratieverständnisses. Allgemein werden Gerechtigkeitsfragen im politischen Entscheidungsprozess verhandelt und massgeblich durch den demokratischen Gesetzgeber entschieden. Letztlich geht es um ein ständiges Ringen um die Gerechtigkeit im Wechselspiel zwischen Gesetzgeber, Exekutive, demokratischer Öffentlichkeit und Gerichten.

Ist unser Rechtssystem gerecht?

Auch dies ist eine grosse Frage! Gerechtigkeit ist ein Ideal, das es zu verwirklichen gilt und dem sich die Rechtsordnung annähern sollte. Nimmt man die Verwirklichung von Grundrechten auf Würde, Leben und Freiheit als Indikatoren, ist unsere schweizerische Rechtsordnung in den letzten Jahrzehnten sicherlich gerechter geworden. Man bedenke etwa die Abschaffung der Todesstrafe, die Anerkennung von Diskriminierungsverboten, wichtigen Sozialrechten und Kinderrechten, oder die Gewährleistung zentraler Verfahrensgarantien. Auch hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit oder der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen hat sich in den letzten Jahren auf rechtlicher Ebene einiges verbessert. Und es wurden Massnahmen zur Bewältigung vergangenen Unrechts getroffen, wie beispielsweise die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen.

«Unsere Rechtsordnung ist nicht wertfrei. Im Gegenteil, unsere Verfassungsordnung manifestiert bestimmte grundlegende Werte wie Freiheit und Gleichheit oder den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.»

Anne Kühler

Wo sehen Sie Ungerechtigkeiten?

Unsere Wahrnehmung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterliegt auch zeitgebundenen Begrenzungen. Zukünftige Generationen werden uns hinsichtlich der Verwirklichung der Klimagerechtigkeit vorwerfen, ihnen gegenüber nicht gerecht gehandelt zu haben, ihre Rechte in unseren heutigen staatlichen Entscheidungen nicht berücksichtigt zu haben. Auch in Bezug auf unseren Umgang mit Tieren entwickelt sich erst allmählich ein allgemeines Bewusstsein, dass Mensch-Tier-Beziehungen gerechter ausgestaltet werden müssen als sie es jetzt sind.

Wie kann die Justiz dazu beitragen, dass sich möglichst viele Mitglieder einer Gesellschaft gerecht behandelt fühlen?

Die Justiz kann massgeblich dazu beitragen, indem sie sich möglichst eingehend mit dem Einzelfall, den sie zu beurteilen hat, auseinandersetzt. Dies bedeutet, dass sie die Anliegen der Betroffenen ernst nimmt, dass sie alle Argumente und Standpunkte im konkreten Einzelfall berücksichtigt und würdigt und dass sie die gerichtliche Entscheidung möglichst dicht begründet. Je stärker sich die Richterinnen und Richter mit den Elementen des konkreten Einzelfalls und der Besonderheit der Umstände auseinandersetzen, desto mehr fühlt sich der Einzelne ernstgenommen und in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen. Dies bedingt aber vorab, dass ein fairer Zugang zum Recht für alle ermöglicht wird. Je enger man den Zugang zu den Gerichten fasst, desto schwieriger wird es, dieses Ideal zu erreichen.

Inwiefern haben ethische Werte Platz im Recht?

Unsere Rechtsordnung ist nicht wertfrei. Im Gegenteil, unsere Verfassungsordnung manifestiert bestimmte grundlegende Werte wie Freiheit und Gleichheit oder den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Dass gewisse Werte miteinander in Konflikt geraten können, wie beispielsweise die Privatautonomie mit dem Umweltschutz, tut dem keinen Abbruch. Solche Wertkonflikte sind möglichst in einem demokratisch legitimierten Entscheidungsprozess aufzulösen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Corona-Epidemie zeigt deutlich, wie stark ethische Fragen die rechtliche Diskussion bestimmen: Welchen Wert hat ein Menschenleben und welche Opfer muss die Bevölkerung erbringen, um die Gesundheit eines Menschen oder einer bestimmten Zahl von Menschen zu schützen? Wer hat ein «besseres Recht» auf Entschädigung der Folgen der bundesrätlichen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus? Entscheidungen wie diese können nicht im wertfreien Raum getroffen werden. Es ist meines Erachtens besser, diesen Umstand anzuerkennen, als ihn abzustreiten. Denn nur so können die Werte und Wertkonflikte transparent gemacht und möglichst rational diskutiert werden.

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