Lehrreiche Urteile

«Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sind oft sehr lehrreich und tragen wesentlich zum Verständnis der nationalen und internationalen Aspekte des schweizerischen Rechts bei», sagt Michel Hottelier, bis vor Kurzem Professor an der Universität Genf.

23.07.2024 - Stéphane Oppliger

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Michel Hottelier hält eine Konferenz am BVGer.
Michel Hottelier während der Konferenz am BVGer am 25. Januar 2024 (Foto: Lukas Würmli)

Michel Hottelier, welches waren in Ihrer 30-jährigen Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Genf Ihre Prioritäten?
Im Wesentlichen waren es drei: die Entwicklung hochwertiger Lehrinhalte, die regelmässig erneuert und angepasst wurden und für die Studierenden leicht zugänglich und verständlich waren, insbesondere auch durch innovative Kommunikationsmethoden; Forschungsthemen, die sich mit der Permeabilität des Verfassungsrechts gegenüber anderen Rechtsdisziplinen befassten, sowohl im inner- als auch im zwischenstaatlichen Verhältnis; und die Öffnung der akademischen Welt zur Stadt und zur Praxis.

Welche Entwicklungen haben Sie in dieser Zeit beobachtet – in Bezug auf die Unterrichtsmethoden, das Verfassungsrecht und die Menschenrechte?
Soweit ich das beurteilen kann, hat es viele Entwicklungen gegeben. In Bezug auf die Wahrnehmung des Unterrichts durch die Studierenden hat die flächendeckende Einführung der Unterrichtsbewertungen an der Universität Genf zur Förderung und Modernisierung der Qualität der Vorlesungen beigetragen. Heute ist die Unterrichtsbewertung im Pflichtenheft der Mitglieder der Professorenschaft völlig integriert. Der Bologna-Prozess hat auch eine offene und willkommene Debatte über die Natur und die Arten der Studiengänge und Vorlesungen angestossen, die die Universität anbieten muss, um sowohl Hard- als auch Softskills zu vermitteln, die mit den Entwicklungen der Gesellschaft im Einklang stehen, insbesondere im Hinblick auf die studentische Mobilität. In jüngster Zeit hat die Entwicklung des Streamings als Unterrichtshilfe die akademische Landschaft regelrecht revolutioniert.

Das schweizerische Verfassungsrecht hat seinerseits bedeutende Veränderungen erfahren. Die Annahme der neuen Bundesverfassung durch Volk und Stände am 18. April 1999 war ein Katalysator wichtiger Grundsatzdiskussionen über unsere Institutionen, ihre Entwicklung und ihre Zukunft. Der Katalog der individuellen Grundrechte, mit dem die Verfassung ausgestattet ist, warf wichtige Fragen auf und führte zu ebenso vielen Grundsatzurteilen des Bundesgerichts, die eine beispiellose Entwicklung der Grundrechte in Theorie und Praxis markieren. Ein identisches Phänomen konnte auf kantonaler Ebene im Kontext der Totalrevisionen der meisten Kantonsverfassungen beobachtet werden.

In Bezug auf die Menschenrechte ist das anhaltende Engagement zu erwähnen, das der Bundesrat und die Bundesversammlung gezeigt haben, indem sie sich seit den 1990er Jahren zahlreichen völkerrechtlichen Verpflichtungen angeschlossen haben. Weniger positiv ist, dass mehrere dieser Instrumente durch die Rechtsprechung als nicht direkt anwendbar eingestuft wurden und in unserem Land folglich nicht wirklich angewendet werden.

Wie haben sich internationale Übereinkommen wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die beiden UNO-Pakte, die UN-Kinderrechtskonvention und die UN-Antifolterkonvention auf das schweizerische Recht ausgewirkt?
Die Auswirkungen sind beträchtlich. Diese Instrumente haben dazu beigetragen, dass das schweizerische Recht in vielen Bereichen angepasst wurde. Der Beitritt der Schweiz zur EMRK hat beispielsweise dazu beigetragen, dass anfangs der Siebzigerjahre das Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt wurde. Wertvoll sind darüber hinaus auch internationale Mechanismen zur Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte, wie sie die EMRK, die Kinderrechtskonvention und die Antifolterkonvention bieten. Bedauerlicherweise hat die Schweiz die beiden Fakultativprotokolle zu den UNO-Pakten, die ein Individualbeschwerdeverfahren vorsehen, bislang nicht unterzeichnet. Schliesslich sei erwähnt, dass die Menschenrechte dem Bundesgericht ermöglicht haben, zahlreiche wichtige Urteile zu fällen.

«Die Lage ist sowohl in institutioneller als auch in rechtlicher Hinsicht ziemlich eindeutig: Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind verbindlich.»

Michel Hottelier

Sollten schweizerische Institutionen Ihrer Meinung nach anders reagieren, je nachdem, ob die Schweiz in einem bestimmten Fall von Strassburg «verurteilt» wird oder ob UNO-Menschenrechtsausschüsse negative Feststellungen treffen?
Die Lage ist sowohl in institutioneller als auch in rechtlicher Hinsicht ziemlich eindeutig: Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind verbindlich, während die Entscheide der UNO-Ausschüsse, die die Einhaltung der Menschenrechtsinstrumente überwachen, lediglich unverbindliche Feststellungen sind. Dennoch handelt es sich dabei zweifellos um völkerrechtliche Garantien derselben Art.

Es wäre deshalb erfreulich, wenn alle Akte dieser Art auf schweizerischer Ebene gleich behandelt würden und insbesondere, wenn auch bei einer Feststellung eines UNO-Ausschusses eine gerichtliche Revision verlangt werden könnte, wie es nach der Gesetzgebung unseres Landes bei einer Verurteilung der Schweiz durch den EGMR der Fall ist. Ich befürworte diese Lösung seit über zwanzig Jahren, leider ohne Erfolg.

Wie ist die heikle Frage des Vorrangs des Völkerrechts, der Menschenrechte und bilateraler Abkommen vor innerstaatlichem Recht heutzutage anzugehen?
Diese Frage wird in der Bundesverfassung behandelt, in der es in Artikel 5 Absatz 4 schlicht heisst, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten. Gemäss dieser Formulierung ist es weniger eine Frage des Vorrangs als eine Frage der Beachtung und Koordinierung der Rechtsregeln innerhalb eines komplexen Rechtssystems. Tatsächlich impliziert der Begriff des Vorrangs immer auch eine hierarchische Ordnung, eine Form der Überlegenheit bzw. Unterwerfung, die Werturteile erzeugen kann.

Das Bundesgericht hatte mehrmals Gelegenheit, sich zur Frage der Integration und der Einhaltung internationaler Normen zu äussern, die für die Schweiz bindend sind, insbesondere im Bereich der Menschenrechte und des Freizügigkeitsabkommens. Die Kasuistik, die es entwickelt hat, ist sehr evolutiv und deutet darauf hin, dass alle schweizerischen Rechtsvorschriften mit den Mindeststandards im Einklang stehen müssen, die sich insbesondere aus der EMRK ergeben.

Welche besonders bedeutenden Schweizer Fälle wurden vor den EGMR gebracht? Inwiefern haben sie unsere Verfassung und unsere Rechtsauffassung verändert?
Dies ist eine weitreichende Frage, denn der Einfluss, den die EMRK über die Rechtsprechung auf das schweizerische Recht ausgeübt hat, ist reich und vielfältig. Es gibt in der Tat nur wenige Bereiche des schweizerischen Rechts, die durch den europäischen Menschenrechtsstandard keine Entwicklungsperspektiven erhalten hätten. Dies gilt umso mehr, als das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung nicht nur spezifisch schweizerische Fälle berücksichtigt, die der EGMR entschieden hat, sondern auch solche, die andere Vertragsstaaten der EMRK betreffen, wenn der zu beurteilende Fall ähnliche Fragen aufwirft. Das ist durchaus bemerkenswert.

Wenn man einen einzigen Präzedenzfall erwähnen müsste, dann wäre es zweifellos das Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 29. April 1988 im Fall Belilos über den Sinn und die Tragweite des Rechts auf Zugang zu einem Gericht im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 EMRK. Dieses Urteil löste damals in der schweizerischen Politik eine regelrechte Welle der Entrüstung aus. Es wurden sogar Stimmen laut, die eine Kündigung der EMRK durch den Bundesrat forderten. Die Auswirkungen dieser Saga sind interessant: Einige Jahre später wurde der Grundsatz einer allgemeinen Rechtsweggarantie in der Bundesverfassung verankert. Der EGMR hatte im Fall Belilos also lediglich – gewissermassen als Vorbote – auf einen erheblichen Mangel des schweizerischen Rechts hingewiesen.

Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht. Würden Sie die Schaffung einer solchen Institution befürworten?
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene ausserordentlich gut entwickelt. Die Behauptung, die Schweiz habe kein Verfassungsgericht, ist missverständlich. Sie bedeutet nicht, dass die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen in der Schweiz nicht geprüft wird, sondern lediglich, dass die Prüfung der Verfassungsmässigkeit grundsätzlich nicht einer einzigen Instanz vorbehalten ist.

In der Schweiz wird traditionellerweise das Modell einer banalisierten Kontrolle angewendet, bei dem die konkrete Untersuchung der Verfassungskonformität im allgemeineren Kontext der Prüfung der Rechtmässigkeit der Entscheide verwässert ist. Daneben wird die abstrakte Prüfung der Verfassungsmässigkeit in Bezug auf kantonale Rechtsakte sowohl vom Bundesgericht als auch von mehreren auf Kantonsebene eingerichteten Verfassungsgerichten ausgiebig praktiziert. Diese Art der Innovation verdient zweifellos Unterstützung im Sinne einer Entwicklung und Perfektionierung der Rechtsstaatlichkeit.

Wie sehen Sie als emeritierter Rechtsprofessor die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts?
Diese Rechtsprechung ist von grösster Bedeutung. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sind oft sehr lehrreich und tragen wesentlich zum Verständnis der nationalen und internationalen Aspekte des schweizerischen Rechts bei. Ich habe häufig Gelegenheit gehabt, diese Kasuistik in meinen Vorlesungen zu präsentieren und zu zitieren, sei es bei der Einführung in das schweizerische Justizsystem oder in spezielleren Unterrichtskontexten wie dem Migrationsrecht. Die Studierenden sind davon geradezu begeistert. Ich hoffe, auf diese Weise dazu beigetragen zu haben, in jungen Westschweizer Juristinnen und Juristen eine Berufung für die Arbeit am Bundesverwaltungsgericht zu erwecken!

Michel Hottelier

Michel Hottelier, geboren 1958, erlangte 1985 ein Doktorat in Recht. Von 1995 bis 2023 war er Professor für schweizerisches Verfassungsrecht und für Menschenrechte an der Universität Genf.

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