In Demut und Bescheidenheit

Eine Expertenorganisation wie das Bundesverwaltungsgericht will demütig und bescheiden geführt sein. Laut Stephanie Kaudela-Baum, Professorin für Führung und Innovation in Luzern, sollte zudem jede Juristin und jeder Jurist in Personalführung ausgebildet sein.

12.07.2022 - Katharina Zürcher

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Detailaufnahme einer Schachpartie

Stephanie Kaudela, welches war Ihre beste und welches Ihre schlechteste Führungserfahrung?

Gute Erfahrungen machte ich mit Vorgesetzten, die mir viel Freiraum fürs Arbeiten und Umsetzen von neuen Ideen liessen, und schlechte mit visionslosen Führungskräften, die Veränderungsinitiativen nicht gut managten. In Expertenorganisationen führen Projekte ohne Beteiligung der Mitarbeitenden nie zum Erfolg.

Sie forschen und publizieren zu Expertenorganisationen. Was zeichnet diese aus?

Expertenorganisationen weisen einen sehr hohen Grad an Wissensintensität und Forschungsnähe auf. Die Expertise und das Spezialwissen selbst sind ihr Produkt. Die Leistungserbringung beruht auf personengebundenem Expertenwissen und -können, das auch in stark regulierten Fachgemeinschaften und -kreisen kultiviert wird.

Warum ist die Führung in Expertenorganisationen ein eigenes Forschungsgebiet?

Im breiten Forschungsfeld der Führung gibt es ausdifferenzierte Sub-Forschungsgebiete. Da die Führung in Expertenorganisationen wie Spitälern, Schulen, Hochschulen und spezialisierten Firmen wie Anwaltskanzleien oder Ingenieurbüros so viele Unterschiede zur Führung anderer Organisationstypen aufweist, handelt es sich klar um ein eigenes Forschungsgebiet.

Worin konkret liegen die Unterschiede?

Die Laufbahn von Expertinnen und Experten richtet sich stark nach den spezifischen Leistungskriterien ihres Berufsstands und ihrer Fachkreise. Dagegen ist die Leistungsbeurteilung der sie beschäftigenden Organisation weniger wichtig für sie. Das berufliche Fortkommen eines Arztes etwa wird nicht von den betriebswirtschaftlichen Erfolgskennziffern seiner Abteilung oder seines Spitals beeinflusst; für seine Laufbahn ist seine Expertise – zum Beispiel die Anzahl durchgeführter Operationen in seinem Fachgebiet –  beziehungsweise deren  Anerkennung von Fachkreisen relevanter. Dies muss in der Führung berücksichtigt werden.

Inwiefern?

Der Führung muss bewusst sein, dass es für eine Expertin zwar nett ist, für ihre betriebliche Performance gut bewertet zu werden, dass diese Bewertung für sie aber nicht gleich relevant ist wie beispielsweise für eine Verwaltungsangestellte. Natürlich müssen die Jahresziele der Organisation erfüllt werden, zumal die Leistungen von Experten ja auch gut bezahlt werden. Aber die Förderung und Würdigung ihrer Laufbahn in der Fachgemeinschaft ist ebenso wichtig.

Was heisst das für die Führung am Bundesverwaltungsgericht?

Viele Urteile haben eine grosse Ausstrahlung. Es sind knifflige juristische Fälle, die gelöst werden und eine Folgewirkung entfalten. Dies sollte in die Wertschätzung der von der Fachperson erbrachten Leistung einfliessen. Denn wenn die Person das Gericht verlässt, ist mit ihr auch das personengebundene Spezialwissen weg. Die andere Seite muss aber ebenso im Auge behalten werden: Der Gerichtsbetrieb wird mit Steuergeldern finanziert, da sind Kosteneffizienz und Rationalität wichtig. Gleichzeitig ist Effizienz nicht alles; Rechtssuchende dürfen erwarten, dass ihr Fall gründlich geprüft und sorgfältig beurteilt wird.

Das klingt nach einem Widerspruch.

Das ist es. Auch Ärztinnen kennen dieses Paradox: Sie wollen ihren Patienten die beste Behandlung angedeihen lassen, doch der CEO eines Spitals muss die Kosten und damit die Quantität im Griff behalten. Diese Widersprüchlichkeit muss anerkannt und offengelegt werden; sie muss als Managementaufgabe begriffen werden. Experten haben eine sehr hohe Arbeitsmarktfähigkeit, das ist relevant für den Führungsstil.

Wie führt man Expertinnen adäquat?

Ein kollegialer Führungsstil auf Augenhöhe und ein partnerschaftliches Führungsbild passen gut in eine Expertenorganisation. Fachliche und administrative Führung gehen Hand in Hand. Nicht funktional ist eine direktive Führung, und ein stark hierarchiebetonter Führungsstil ist gar kontraproduktiv. Experten möchten, dass man ihnen den Rücken freihält. Es geht bei ihrer Führung mehr ums Coachen, Begleiten, Unterstützen. Ideal ist eine zurückhaltende, eher leise Führungsweise, die viel Autonomie gewährt und trotzdem eine gute Koordination sicherstellt.

«Ein kollegialer Führungsstil auf Augenhöhe und ein partnerschaftliches Führungsbild passen gut in eine Expertenorganisation.»

Stephanie Kaudela-Baum

Wie weit soll die zu gewährende Autonomie gehen?

Im Gegenzug zu ihrer Entlöhnung müssen Expertinnen verantwortungsvoll mit ihrer Autonomie umgehen. Die Führung kann also nur auf der Basis einer kollegial-partnerschaftlichen Beziehung gestaltet werden; alles andere würden Experten als Bedrohung empfinden, als unzulässiger Angriff auf ihre Denkfreiheit und Integrität, auf die Freiheit der Urteilsentwicklung. Die richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut; da liegt für die Gesellschaft viel in der Waagschale. Den Dialog partnerschaftlich zu führen, muss man als Führungsperson aber wollen, denn es bedeutet, in Demut und Bescheidenheit zu führen.

Werden Experten besser von Experten oder von Nicht-Experten geführt?

Werden Expertinnen durch Expertinnen geführt, ist die fachliche Anerkennung deutlich höher. Die Führungspersonen befinden sich dann aber häufig in einem inneren Kampf zwischen ihrer professionellen Identität und ihrem administrativen Leitungsjob. Um ein Führungsvakuum zu überbrücken, geben sich viele Expertenorganisationen deshalb glasklare Regeln und Strukturen. An einem Gericht können diese den Prozessablauf oder die Durchschnittszeit für die Fallbearbeitung betreffen. Es entlastet alle Beteiligten, wenn alles so stark reglementiert ist, dass sich die Führung auf Ausnahmen beschränken kann.

Welches sind häufige Probleme von Führungspersonen in Expertenorganisationen?

Eine hohe Fluktuation in der Organisation ist ein kostspieliger Wissensverlust, denn die Führungspersonen müssen das Wissen immer wieder kunstvoll aufbauen. Manchmal werden auch Probleme zu lange nicht angegangen, weil man keine Zeit hat für Führungsaufgaben. So können Konflikte eskalieren. In Anwaltskanzleien etwa sieht man, dass Anwälte bei Konflikten eher die Kanzlei verlassen und mit anderen Partnern eine neue gründen, als dass sie eine Unternehmensberatung einholen, um die Prozesse zu durchleuchten.

Welches sind die Chancen für die Führung in Expertenorganisationen?

Man darf Leute führen, die meist eine hohe Eigeninitiative haben, die selbständig und lernbereit sind, gut vernetzt und intrinsisch motiviert. Sie sind an der Sache orientiert, knien sich in ihre Arbeit, vertiefen sich in die Materie. Es ist ein Geschenk, in einer solchen Organisation zu führen. Es gilt nur noch, eine Öffnung zwischen der Laufbahnentwicklung und der Professionslogik herzustellen.

Portrait Stephanie Kaudela-Baum

ZUR PERSON

Stephanie Kaudela-Baum studierte Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Augsburg und Basel. Sie promovierte an der Universität Basel zum Thema Strategisches Human Resource Management und verfügt über mehrjährige Lehr- und Forschungserfahrung in Themen von Management- und Leadership. Aktuell forscht und lehrt sie an der Hochschule Luzern und begleitet als Co-Leiterin des «Competence Center Unternehmensentwicklung, Führung und Personal» Transformationsprozesse in Organisationen. Zusammen mit Peter Kels hat sie 2019 das Buch «Experten führen» herausgegeben.

Wie wichtig sind soziale Kompetenzen in der Führung?
Mit sozialer Kompetenz und guter Kommunikation kann ein Arbeitsklima gestaltet werden, in dem alle motiviert sind und gern arbeiten. Sind die Führungspersonen Nicht-Experten, ist die Akzeptanz der Geführten kleiner. Umso wichtiger ist es, dass sich beide Seiten empathisch ins Gegenüber hineinversetzen können, um dessen Anliegen zu verstehen. Denn man darf nicht vergessen: Auch Finanz- oder HR-Fachleute sind Experten auf ihrem Gebiet.

Was zeichnet gute Vorgesetzte aus?
Gute Vorgesetzte können mit widersprüchlichen Zielen umgehen, führen partnerschaftlich und auf Augenhöhe, bringen die Organisationsziele klar zum Ausdruck. Sie haben die mittel- und langfristigen Ziele im Blick, lassen den Weg dorthin aber ein Stückweit offen – Mikromanagement ist nicht ideal. Gute Vorgesetzte begreifen Fehler als Lernchance und dürfen auch Schwächen zeigen.

Führen Frauen anders als Männer?
Nicht grundsätzlich, aber es gibt einen weiblich und einen männlich konnotierten Führungsstil. Der weibliche wird in der Literatur gängigerweise als  partizipativ, integrativ, kollegial, der männliche kompetitiv und transaktional beschrieben Zurzeit gibt es einen Hype um die stärkenorientierte Führung mit Teamwork und projektartigen Strukturen, dank derer Teams gut performen. In der Pandemie hat sich zudem gezeigt, dass eine gute Führung mit Unsicherheit und Veränderungen konstruktiv und agil umgehen kann.

Haben sich die Führungsanforderungen durch die Pandemie stark verändert?
Ja, denn bei der Führung auf Distanz fallen die direkte Kontrolle und der Präsentismus weg. Manche haben erstaunt registriert, dass vieles prächtig funktioniert, wenn sie ihren Mitarbeitenden Vertrauen schenken und Selbstbestimmung übergeben. Führen auf Distanz benötigt neue Kompetenzen, da man die Mitarbeitenden nicht gleich spürt. Die Arbeit im Homeoffice kann als belastend empfunden werden und zu Entfremdung führen.

Wie wichtig ist eine Führungsausbildung und Weiterbildung?
Leider ist es gerade in Expertenorganisationen verbreitet, dass diejenigen Personen, die es nötig hätten, keine Weiterbildung in Anspruch nehmen. Das tun vielmehr die Interessierten, die es schon gut machen. Führungsweiterbildung per Zwang funktioniert aber nicht. Deshalb gehört Führungsausbildung als Pflichtfach in die Studiengänge. Jeder Jurist, jede Architektin und Ärztin sollte in Personalführung ausgebildet sein und die nötige Sozialkompetenz aufweisen.

Was kann die Organisation in Sachen Weiterbildung unternehmen?
In Spitälern funktioniert die kollegiale Fallberatung gut. Man tauscht sich zum Beispiel einmal im Monat über knifflige Führungsprobleme aus, verbindet das vielleicht mit einem Coaching oder Input zu Themen wie Gesprächsführung, Konfliktmanagement, Gruppendynamik oder Kommunikation.

Wie wird eine Organisation wie das Bundesverwaltungsgericht in zehn oder zwanzig Jahren geführt werden?
Schon heute zeigt sich, dass die von der Hochschule kommenden Talente, die Expertenorganisationen brauchen, andere Vorstellungen vom Leben und Arbeiten haben. Sie wollen ihre Persönlichkeit weiterentwickeln, wollen in sinnstiftenden Organisationen arbeiten. Sie werden sich sehr genau fragen, ob ihre Arbeitswerte zu den Werten der Organisation passen. So wird es noch schwieriger werden, gute Leute zu rekrutieren und zu binden, was zu einer deutlichen Enthierarchisierung von Expertenorganisationen führen wird.

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