Soziale Kontakte machen glücklich
Interview : Katharina Zürcher
Michaela Knecht, früher sprach man von Work-Life-Balance, heute von Life-Domain-Balance. Sind Sie zufrieden mit Ihrer?
Ja, aktuell bin ich sehr zufrieden damit. Zwar arbeite ich seit einigen Jahren sehr viel, aber das passt zu meiner jetzigen Lebenssituation. Was den Begriff Life-Domain-Balance angeht: Er hat sich zwar noch nicht überall durchgesetzt, ist aber akkurater als Work-Life-Balance. Denn es geht ja um das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Lebensbereichen wie Beruf, Familie, Freizeit, Freiwilligentätigkeit und Hobbys.
Wie wichtig ist dieses Zusammenspiel für ein erfülltes und gesundes Leben?
Es ist zentral. Wenn es einem nicht gelingt, die unterschiedlichen Verpflichtungen so wahrzunehmen, wie man das gerne möchte, hat das negative Auswirkungen auf die Gesundheit, aber auch auf die Leistung. Nehmen wir an, eine Person hat einen Konflikt zwischen familiären und beruflichen Verpflichtungen, sie muss vielleicht wegen eines Geschäftstermins auf ein Familienfest verzichten oder kann umgekehrt wegen eines kranken Kindes nicht an einem wichtigen beruflichen Meeting teilnehmen: Solche Stressoren wirken sich negativ auf Gesundheit und Lebenszufriedenheit aus.
Wie gelingt es, eine gute Life-Domain-Balance herzustellen?
Es gibt kein Rezept, wie viel Zeit man für die verschiedenen Bereiche aufwenden soll. Das ist ganz individuell und kann sich über die Lebensspanne immer wieder ändern. Gerade Veränderungen wie Elternschaft oder ein neuer Job sind wichtige Anlässe zu reflektieren, ob man sich so in die verschiedenen Lebensbereiche einbringen kann, wie man sich das wünscht. Dabei muss die Balance immer wieder von Neuem gefunden werden. Gradmesser ist das individuelle Wohlbefinden. Warnsignale wie schlechter Schlaf oder häufiges Kopfweh sollten zum Anlass genommen werden, die Lebenssituation zu reflektieren – allein oder mit der Familie, Freunden, einem Coach.
Gibt es Lebensphasen, in denen es besonders wichtig ist, auf diese Balance zu achten?
Ja, das mittlere Erwachsenenalter ist besonders kritisch. Es ist eine für Familie und Beruf entscheidende Phase, die wir in der Psychologie Rush hour nennen. Einerseits werden beruflich viele Weichen gestellt. Andererseits sind oftmals kleine Kinder da, deren Betreuung sehr zeit- und energieintensiv ist. Und wenn noch ein Elternteil erkrankt, ist es gar nicht so einfach, alles unter einen Hut zu bekommen. Vor allem Frauen nehmen sich dann beruflich zurück, was sich negativ auf ihre Karriere auswirken kann. Unterstützung durch eine institutionalisierte Kinderbetreuung oder ein gutes soziales Umfeld sind Gold wert. Bei der Arbeit ist es wichtig, dass Führungskräfte Verständnis für die privaten Verpflichtungen ihrer Mitarbeitenden aufbringen und mit ihnen zusammen Lösungen suchen.
Warum sollten sich Vorgesetzte für die private Situation ihrer Mitarbeitenden interessieren?
Wenn Führungskräfte die Life-Domain-Balance ihrer Mitarbeitenden fördern, steigert das die Arbeitgeberattraktivität, was gerade beim aktuellen Fachkräftemangel ein Plus ist. Zudem stärkt es die Unternehmensbindung, verbessert die Arbeitsleistung und reduziert die Kündigungsabsicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es lohnt sich für Organisationen, Leute länger zu halten. Der aktuelle Fachkräftemangel ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Nicht nur Arbeitgeber, sondern auch Arbeitnehmende leiden darunter – denken wir beispielsweise an die Angestellten des Gesundheitswesens oder des Gastgewerbes, die ihre Arbeitsleistung zudem nicht im Homeoffice erbringen können.
Stichwort Homeoffice: Kann es Stress reduzieren?
Homeoffice und flexible Arbeitsmodelle ermöglichen eine bessere Vereinbarkeit der Arbeit mit Familie, Hobbys und anderen Interessen. Über Mittag Sport zu treiben kann angenehmer sein als abends nach einem langen Arbeits- und Pendeltag. Dank Digitalisierung sind heute viele Tätigkeiten praktisch überall und jederzeit möglich. So lässt sich die Arbeit an die persönlichen Vorlieben anpassen. Und auch die Pendelzeit fühlt sich weniger sinnlos an, wenn sie zum Arbeiten genutzt werden kann.
Homeoffice wurde erst möglich durch die voranschreitende Digitalisierung. Ist diese uneingeschränkt positiv?
Neben vielen Vorteilen birgt die Digitalisierung auch Risiken. Das Hauptrisiko ist, dass die Erholung schwerer fallen kann. Wenn man immer weiterarbeiten könnte, stellt sich die Frage, wann Feierabend ist. Früher ging man ins Büro und arbeitete, danach ging man nach Hause und hatte frei. Es gab die räumliche Trennung, zusätzlich betont durch den Arbeitsweg. Heute können wir auch noch abends auf dem Sofa Mails checken oder in den Ferien an einem Meeting teilnehmen. Wenn aber das Abschalten von der Arbeit nicht mehr richtig funktioniert, kann das zu Erschöpfung führen und Körper und Geist schädigen.
Wie gelingt eine gute Abgrenzung auch im Homeoffice?
Auch das ist individuell. Nicht jede Person hat dasselbe Bedürfnis nach Abgrenzung. Manchen ist ganz wohl, wenn sich Arbeit und Privatleben vermischen; andere legen Wert auf eine strikte Trennung. Strategien können sein, zum Beispiel nach sieben Uhr nicht mehr in die Mails zu schauen. Gewohnheiten wie ein Spaziergang vor und nach der Arbeit, was den Arbeitsweg simuliert, können ebenfalls helfen. Ich persönlich markiere meine Arbeitszeiten auch im Kalender, damit meine Kolleginnen und Kollegen wissen, wann ich für Anrufe zur Verfügung stehe.
«Weil der Erholungseffekt von Ferien innert kürzester Zeit verpufft, lohnt es sich, häufiger kürzere Auszeiten zu nehmen.»
Michaela Knecht
Und wenn solche Massnahmen nicht helfen?
Wenn der Druck bei der Arbeit sehr gross ist, reichen eigene Abgrenzungsstrategien manchmal nicht mehr. Dann gilt es, im Team über die Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder zu sprechen. Führungskräfte haben eine wichtige Rolle. Sie sollten ihre Erwartungen zur Erreichbarkeit klar kommunizieren. Wenn sie selbst abends oder am Wochenende arbeiten, sollte es klar sein, dass sie dann keine Antwort erwarten. Denn wenn ich in der Freizeit immer wieder mit Arbeitsproblemen konfrontiert werde, kann das Stress hervorrufen und die Erholung verhindern. Sie kennen das vielleicht: Wenn Sie wegen eines anstehenden Vortrags nervös sind, ruft das jedes Mal, wenn Sie daran denken, Stress hervor. Dieser wirkt sich körperlich und mental negativ aus.
Apropos: Hat die ständige digitale Verfügbarkeit einen Anteil an der Zunahme der mentalen Probleme?
Zur Ursache der zunehmenden mentalen Probleme gibt es verschiedene Vermutungen. Klar ist, dass wir digital zahlreichen Anforderungen ausgesetzt sind. Viele Menschen möchten dem ja auch entfliehen, zum Beispiel durch Achtsamkeitstraining. Das ist aber gar nicht so einfach. Früher war man auf einem Spaziergang allein, konnte die Gedanken schweifen lassen. Heute gibt es ständig und überall viel Input. Das hat positive wie negative Effekte. Wichtig ist, auf sich zu achten und bewusst Grenzen zu ziehen. Das kann bedeuten, eine App nicht zu öffnen, Pushnachrichten zu deaktivieren, Emails nicht zu synchronisieren. Es lohnt sich, darüber nachzudenken und darüber zu sprechen, denn die Präferenzen sind sehr individuell.
Wenn wir über Stress reden, müssen wir da nicht auch die Freizeit thematisieren? Wir sollten Sport treiben, Freunde treffen, Ehrenämter bekleiden, uns weiterbilden …
Wir haben tatsächlich viele und vielfältige Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Wichtig ist, das zu finden, was wir gerne tun. Grundsätzlich ist es sehr positiv, sich in unterschiedlichen Tätigkeiten und Lebensbereichen zu engagieren. Das ermöglicht einen Transfer von positiven Gefühlen vom einen in den anderen Lebensbereich. Auch der Transfer von Kompetenzen ist belegt – so kann etwa eine im Verein gewonnene Führungserfahrung im Beruf angewendet werden. Zudem kann ich mit Freizeitaktivitäten etwas kompensieren, was im Beruf vielleicht zu kurz kommt. Erlebe ich zum Beispiel gerade eine schwere Zeit am Arbeitsplatz, hilft es, mich in der Freiwilligentätigkeit kompetent zu fühlen.
Welche Freizeitbeschäftigungen sind denn besonders wertvoll?
Wir sollten uns dort engagieren, wo es uns am meisten Freude bereitet. Aktive Freizeittätigkeiten sind empfehlenswerter als passive: Es ist erholsamer, sich nach einem strengen Tag nochmals aufzuraffen, etwa um Freunde zu treffen oder eine neue Sprache zu lernen, als sich aufs Sofa zu legen und durchs Fernsehprogramm zu zappen. Auch wer zum Grübeln neigt, sollte etwas unternehmen, das ihn oder sie ganzheitlich fordert. Ob Chorsingen, Tanzen, Klettern oder Mannschaftssport: Solche Tätigkeiten fordern den Körper und den Geist, weil wir voll präsent sein müssen. Ganz allgemein tun uns Aktivitäten gut, die komplementär zur Arbeitstätigkeit sind.
Gilt das auch für Wochenenden und Ferien?
In den Ferien sollen selbstbestimmte Tätigkeiten, die Freude machen, und soziale Kontakte im Vordergrund stehen. Pausen von der Arbeit sind wichtig, nicht nur am Wochenende oder in den Ferien: Untersuchungen haben gezeigt, dass mit häufigeren Pausen und somit einer Reduktion der Arbeitszeit sogar die bessere absolute Arbeitsleistung erzielt wird. Aber zurück zu den Ferien: Leider verpufft der Erholungseffekt innert kürzester Zeit – ganz egal, ob die Ferien eine oder drei Wochen gedauert haben. Weil verlängerte Wochenenden oft denselben Erholungswert haben wie lange Ferien, empfiehlt es sich, häufiger kürzere Auszeiten zu nehmen als wenige lange. Wenn Sie an etwas Theorie interessiert sind …?
Bitte.
Das DRAMMA-Modell erklärt, warum uns Freizeit guttut. Die Buchstaben stehen für folgende Begriffe: D für Detachment, mentales Abschalten; R für Relaxation, also Entspannung; A für Autonomy im Sinn von selbstbestimmtem Tun; M für Mastery, also Kompetenzerleben, M für Meaning, Sinn erleben. Und das letzte A steht für Affiliation, Zugehörigkeit. Aus der Forschung wissen wir, dass Einsamkeit sehr schädlich ist; sie macht anfälliger für Krankheiten, und Einsame sterben sogar früher. Ein gutes soziales Netzwerk ist deshalb eine grosse Ressource.
Zum Schluss: Haben Sie noch einen Tipp für unsere Leserinnen und Leser?
Soziale Kontakte zu pflegen tut immer gut, bei der Arbeit und im Privatleben, denn soziale Kontakte machen uns glücklich. Daneben gilt es immer wieder zu überlegen: Stimmt meine Lebensbalance noch? Gibt es etwas, das ich ändern möchte? Wenn ja, sollte ich den Mut aufbringen, es zu tun. Eigeninitiative hat viele positive Effekte.
Führungskräfte in der Verantwortung
Was können Arbeitgebende tun, um die Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihres Personals zu fördern? Laut Michela Knecht, Professorin am Institut Mensch in komplexen Systemen an der Hochschule für Angewandte Psychologie in Olten, gibt es viele Möglichkeiten. Diese reichen vom Sportangebot über gesundes Essen bis hin zu familienfreundlichen Arbeitszeiten. Das soziale Miteinander und gegenseitige Unterstützung sowie ein wertschätzendes Klima und Anerkennung sind dem Wohlbefinden der Mitarbeitenden zuträglich, wohingegen sich Zeitdruck ungünstig auswirkt. In der Verantwortung sieht die Expertin besonders die Führungskräfte: Sie sollten ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Handlungsspielraum gewähren und durch ihre Haltung als Vorbilder wirken.
Weitere Blogeinträge
Kommunikation wird immer wichtiger
Monique Schnell Luchsinger ist eine von mehreren BVGer-Gerichtsschreibenden, die den laufenden Studiengang Judikative an der Richterakademie Luzern besuchen. Das beschert ihr mitunter Heureka-Momente.
Freuden und Leiden der Mehrsprachigkeit
Für Janique Bleiker, Mitarbeiterin in der Kanzlei der Abteilung VI, ist die Mehrsprachigkeit erst einmal eine Bereicherung. Sie sieht sie als Chance für alle Mitarbeitenden, denen dadurch ein motivierendes Arbeitsumfeld zur Verfügung steht. Mit der Mehrsprachigkeit können aber auch Schwierigkeiten verbunden sein.